Durch die Knochen bis ins Herz. Christoph Heubner

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Durch die Knochen bis ins Herz - Christoph Heubner

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der Barry, den es gegeben haben musste, bevor er beschlossen hatte, sich mitsamt seinen Kacheln und Fliesen einzumauern. An einem Tag Anfang Mai hatten Barry und ich uns wieder einmal zu einem Match verabredet. Die Sonne brachte uns schon tüchtig ins Schwitzen, und als wir nach dem Spiel auf dem Weg zu den Duschen waren, die Handtücher lässig um den Hals gelegt, zeigte Barry beiläufig auf meinen Unterarm und fragte: Da, wo du warst, was gab es dort für Sportmöglichkeiten? Hast du dort mit dem Tennis angefangen?

      In diesem Moment kam mir blitzartig ein Abend vor vielen Jahren in den Sinn, als Hannah, Eve, Ben und ich noch jung waren und uns regelmäßig einmal im Monat zum Dinner bei Katz‘s Delicatessen in der Lower East Side trafen. Auch das muss im Frühling oder Sommer gewesen sein, denn mein Freund Ben und ich trugen kurzärmelige Hemden und Hannah und Eve ärmellose Kleider. Bei keinem von uns hatten sie damals an Tinte für die Nummern gespart. Sie waren groß, krakelig und schwer zu übersehen. Nicht, dass es bei Katz‘s irgendwie aufgefallen wären. Dort saßen in diesen Jahren, die man ohne Übertreibung noch zu den Nachkriegsjahren rechnen konnte, viele, die auch Gezeichnete waren, aber dennoch entspann sich an diesem Abend zwischen uns vieren eine Diskussion, ob man sich die Nummer nicht doch besser entfernen lassen sollte, weil sie im alltäglichen, sommerlichen Umgang zu auffällig war und Menschen verschreckte oder auf Distanz hielt. Wir wollten nichts Besonderes mehr sein, wir wollten dazugehören. Das war alles. Es war Ben, der schließlich sagte: Auch wenn wir sie wegmachen lassen, wird sie nicht weg sein. Und es käme mir vor, als ließe ich meine Eltern und Geschwister im Stich, die dort geblieben sind. Ich kann sie nicht allein lassen. Sie lassen mich auch nicht allein. Das war das Ende der Debatte. Alle unsere Nummern sind geblieben. Und das ist der Grund, warum Barry nach diesem Match auf meinen Arm zeigen und seine Frage loswerden konnte.

      Gleich nachdem ich vom Tennisplatz nach Hause gekommen war, rief ich Leon an, der mittlerweile Arzt am Mount Sinai Hospital in Chicago war. Ich erzählte ihm von Barrys Frage, die mich immer noch empörte, und hoffte, dass er in meine Empörung einstimmen und die Ignoranz dieser ahnungslosen und oberflächlichen Welt der Barrys mit mir verdammen würde. Aber Leon blieb ganz ruhig und sagte bloß: Erzähl ihm, wie es war. Setz dich mit ihm im Clubhaus an die Bar und rede. Du bist von uns beiden der Redner. Du musst es erzählen. Und du musst bald anfangen, sonst werden immer mehr solcher Fragen auf uns alle zurollen. Sie könnten auch fragen, ob wir beim Mittagessen die Wahl zwischen verschiedenen Menüs hatten oder ob sie für die Juden koscheres Essen angeboten haben. Oder ob wir Radio hörten und in der Lagerbibliothek Bücher ausleihen durften, ergänzte ich ihn. Wir lachten, und ich legte auf.

      Jetzt lag der Ball bei mir. Und so machte ich mich am nächsten Morgen auf zu Barry, um einen Termin für ein Match und ein Gespräch danach zu verabreden. Er stand in einem dunkelblauen Overall hinter dem Ladentisch und suchte mit gesenktem Kopf etwas in einer Schublade. Wie wäre es mit einem Match am kommenden Sonntag und zwei Stunden deiner Zeit danach, fragte ich ihn, ich will dir etwas erzählen, hob meinen Unterarm etwas an und drehte die Nummer zu ihm hin. Barry war verlegen, er wurde sogar etwas rot und stand immer noch mit gesenktem Kopf vor dieser Schublade. Die ganze Sache war ihm offensichtlich peinlich. Hör zu, Sportsfreund, sagte er, als er den Kopf endlich ziemlich ruckartig anhob: Ich wollte dir nicht zu nahe treten, ich bin nur ein einfacher irischer Klempner, ich verstehe wenig von der ganzen Sache, und er zeigte auf meine Nummer. Ich war einfach nur neugierig und habe gefragt. Am liebsten hätte ich mir gleich darauf die Zunge abgebissen. Wie komme ich dazu, in deine Geschichte einzudringen. Ich entschuldige mich dafür. Schon ok, Barry, antwortete ich ihm: Was sagst du zu meinem Angebot? Ok, antwortete Barry bloß und fiel mit seinem Blick schnell in die Schublade zurück. Und ich ging hinaus auf die Straßen Manhattans, auf denen an diesem frühen Morgen kaum Autos und Menschen zu sehen waren, und hatte zum ersten Mal seit vielen Jahren das Gefühl, dass es möglich sein könnte, der Angst etwas Entscheidendes entgegenzusetzen und nicht nur diesen Straßen, sondern auch dem Leben zu vertrauen. Bevor ich losgegangen war, hatte ich mit Hannah und den Kindern gefrühstückt. Das war wohl der Grund.

      Am Freitag vor unserer Verabredung rief Barry mich an, druckste erst um das Wetter herum und fragte dann, ob es nicht einfacher wäre, wenn wir zusammen zum Tennis-Club fahren würden. Er könnte mich am Sonntag nach der Messe abholen und wir hätten schon auf der Fahrt Gelegenheit, ein bisschen zu quatschen. Was dazu führte, dass ich wie geplant mit der Familie am Freitag zu unserem Landhaus fuhr und am Sonntag früh alleine nach New York zurückrauschte, um mich von Barry abholen zu lassen. Die ganze Sache begann mich zunehmend zu verunsichern, und ich fragte mich ernsthaft, ob ich mir von Leon nicht etwas hatte aufhalsen lassen, was meine Möglichkeiten überstieg. Barry war noch im Sonntagsstaat, als er vor unserem Haus vorfuhr, schwarzer Anzug, dunkelblaue Krawatte, und als ich in das Auto stieg, meinte ich, Weihrauch zu riechen, der sich im schweren Stoff seines Anzugs festgesetzt hatte. Wir hatten noch keine halbe Meile zurückgelegt, als Barry mit der ersten Frage loslegte, und die Verlegenheit, die sich zwischen uns hatte ausbreiten wollen, verdrückte sich in Sekundenschnelle. Warum sind die so groß, fragte er und zeigte mit dem Finger auf die Zahlen auf meinem Arm: Sieht aus, als hätten Kinder geübt. Und obwohl ich noch nie darüber nachgedacht hatte, wo der Anfang meiner Erzählung war und wie sich das alles in Worte fassen ließ, was wir erlebt hatten, begann ich zu berichten.

      Womit habe ich angefangen? Dass zwei Jungen mit ihren Eltern und vielen anderen Ende August 1944 aus einem Zug geklettert sind – kein normaler Zug, Viehwagen, verstehst du –, sie heißen Roman und Leon und sind knapp fünfzehn und dreizehn Jahre alt. Der Fünfzehnjährige ist relativ klein, hat aber ein altes Gesicht. Der Dreizehnjährige steht mit dem Gesicht eines Kindes neben den Gleisen, aber er ist hoch aufgeschossen. So kommen beide davon. Ihre Eltern, die noch jung, aber hier schon viel zu alt und ausgezehrt sind, stehen schon auf der anderen Seite einer unsichtbaren Linie, die Leben und Tod voneinander trennt. Das aber wissen sie jetzt noch nicht. Leon dreht sich oft zu den Eltern hin und kämpft mit den Tränen. Ihr seid meine großen Jungs, hat die Mutter im Zug gesagt, ihr müsst immer tapfer sein, egal was kommt, und Leon will tapfer sein. Dann führt man sie davon. Die Eltern werden im Hintergrund immer kleiner, bis sie ganz verschwunden sind. Jetzt geht es um eine langgezogene Ecke, hier kann man vom Anfang des Zuges bis zum Ende sehen. Es ist ein langer Zug, der schließlich in einem großen Backsteingebäude endet, wo sich alle in einem großen kahlen Raum entkleiden müssen. Das alles geht nicht gemütlich ab, oder zivilisiert, sondern es wird gebrüllt, geschlagen und getreten. Und dann, Barry, stehen wir nackt in einer langen Reihe, die sich schnell vorwärts bewegt. Einige recken die Hälse, um über die anderen hinwegzusehen und zu erhaschen, was dort vorne vor sich geht: Eine relativ kleine Kammer, über deren Eingang die Deutschen freundlicherweise angeschrieben haben, wozu dieser Raum dient: »Haarschneideraum« steht dort, und das heißt, dass zwei Männer in gestreiften Anzügen auf dich warten: Der eine hält dich auf dem Stuhl fest und der andere schert dir in Blitzesschnelle mit einer elektrischen Maschine die Haare ab. Das tut weh, und wo sich die Maschine in deiner Haut verbissen hat, blutet es auch. Dann, Barry, wirst du weitergeschoben. Du kannst dich nur kurz umdrehen, ob Leon noch hinter dir ist: Jetzt sitzt er auf dem Stuhl, und die Maschine beginnt erneut zu surren und zu beißen. Ein paar Meter weiter greifen dich wieder zwei der Gestreiften, und jetzt Barry, musst du aufpassen. Der eine reißt deinen rechten Arm hoch, bis er etwa waagerecht liegt, und wieder wirst du festgehalten, wie ein bockiges Schaf. Der andere kommt näher mit seiner Nadel, und ehe du dich versiehst, hat er dir mit Tinte eine Nummer eingestochen, die irgendwo in einer Liste vorgegeben war, weder gerade noch schön, es sieht aus als hätte er die Zahlen geohrfeigt und dich mit dazu. Das ist jetzt deine Nummer, das ist jetzt hier dein Name, denn du bist kein Mensch mehr, sondern ein Häftling, ein Sklave, ein Untermensch, so wie ich und wie Leon auch.

      Ich habe erzählt und erzählt. Die Worte stürzten aus meinem Mund, als wären sie über Jahre eingekerkert gewesen und würden jetzt in die Freiheit entlassen. Wie groß waren die Lager I und II, wo kamen die Züge an, wie viele Menschen waren in einem Waggon eingesperrt, was bedeutete die Selektion, aus welchen Ländern kamen die Menschen, warum die Juden, warum die Roma, warum die Polen, warum die Russen, waren Leute aus Frankreich da, aus Italien, aus welchen anderen Ländern: warum, warum, warum. Wir waren längst auf dem Parkplatz am Club angekommen, aber wir stiegen nicht aus. Barry hielt das Lenkrad des Wagens mit beiden Händen fest,

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