JENSEITS VON OSCHERSLEBEN. Jürgen Böttcher
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Er hatte sich getäuscht. Murat hätte nun gern Manni gefragt, die Situation wurde ihm unheimlich. Manni konnte nicht mehr antworten, er war schon „Jenseits von Oschersleben“, doch die Situation hätte vermutlich auch Manni überfordert.
Anfang März war alles unheimlich, Mitte März geriet die Welt schon aus den Fugen. Jeder neue Tag wurde zu einem Seismografen, der die Menschen aus ihrer gewohnten Haut schälte.
Diese Haut war weich und zart, sie stammte aus Wohlstand und Frieden. Jetzt wurde sie rissig, mit jedem Tag mehr. Mit brachialer Gewalt traten Eigenschaften zutage, die schon immer da waren, jetzt aber die Leitplanken verloren hatten. Plötzlich drehte die Erde sich langsamer, für manche fühlte es sich auch schneller an. Ungefiltert wie durch ein Brennglas traten ein paar gute Eigenschaften des Menschen hervor, doch leider viel mehr schlechte.
Murat konnte es ohne Manni nicht so formulieren, doch er merkte deutlich, dass die Menschen anders wurden. Keiner gab ihm mehr die Hand und bald darauf sprach auch niemand mehr mit ihm. Es kaufte auch niemand mehr bei ihm, zum ersten Mal hatte Murat das Gefühl, die Leute hätten Angst vor ihm.
Das Gefühl trog ihn nicht. Murat stand vor seinem Laden, er schaute nach links, der Vodafone-Shop hatte keine Kunden, genauso wie er.
Murat schaute nach rechts, dort war dm und die Menschen bildeten eine Schlange, gleichwohl es dort sonst immer leer war.
Er hörte von anderen, die Leute standen nach Toilettenpapier an. Als Murat das erfuhr, dachte er sofort, die Virologen hatten sich geirrt. Von Corona bekommt man keine Lungenkrankheit, sondern Durchfall.
Dann brachte er aber in Erfahrung, das Toilettenpapier hatte mit dem Virus nicht direkt zu tun, das Virus hetzte Risikogruppen. Daraufhin hatte Murat die Hoffnung, die Dummen wären gut als Risikogruppe.
Doch alle Dummen, die er kannte, lebten auch Ende März noch.
Murat dachte, vielleicht brauchen die Dummen einfach mehr Zeit zum Sterben, er wusste nicht, wen er fragen sollte, er fühlte sich unwohl. Mit jedem Tag wurden die Menschen radikaler, inzwischen gingen die Leute lieber auf die andere Straßenseite als direkt an seinem Laden vorbei. Danach wechselten sie wieder die Straßenseite und reihten sich in die Schlange vor dm ein.
Freitag, der Dreizehnte, war Murats letzter Tag in seinem Laden. Er machte noch einmal sauber, stellte die Stühle ordentlich zusammen, rückte die Tische gerade, dann ging er hinaus und schloss die Tür hinter sich ab. Er hinterließ keine Information an der Tür, er drehte sich auch nicht mehr um, er wusste, es war vorbei.
Mit ruhigen Schritten ging er auf den Eingang von dm zu, er ließ sich von den Pöbeleien der wartenden Menschen nicht beirren, ging an ihnen vorbei in den Laden. Dort ging er direkt zum Filialleiter und bewarb sich als Packer.
Der Filialleiter stellte ihn sofort ein, Murat sollte noch am selben Tag anfangen, er wurde zuständig, Toilettenpapier und Küchentücher nachzulegen. Er war jetzt so wertvoll wie ein rumänischer Erntehelfer, Murat wurde an diesem Tag systemrelevant.
Fortan hatte er gegen Mittag Feierabend, trotzdem verdiente er nun ungleich mehr als mit seinem Imbiss.
Murat dachte, Manni wäre jetzt bestimmt stolz auf ihn.
Derweil wurde die Lage draußen immer angespannter.
Vor den Regalen stießen die Menschen sich zur Seite, man kaufte jetzt nicht mehr nur Toilettenpapier auf Vorrat, sondern auch Nudeln und Eintopf aus der Büchse, selbst aus dem Korb vor der Kasse wurde gestohlen.
Die Rufe nach Rosinenbombern wurden laut, war das nicht damals eine Erfolgsgeschichte? Heute wollte aber jeder seinen eigenen Rosinenbomber, aber auch das konnte dieser Staat wieder nicht leisten. Das Land bekam tiefe Risse, es war fast unmenschlich, hier zu leben.
Nicht einmal eine defekte Glühbirne konnte das Innenministerium wechseln, alles sollte man selbst machen, die Zeit für die Ränder schien endgültig gekommen.
Bonsaihitler Höcke wollte jetzt die Feinde ausschwitzen, wen immer er damit auch meinte.
Als Murat das hörte und die Menschen in seinem Laden sah, dachte er, ohne den ganzen Tag in der Sauna zu sitzen, wird er das nicht schaffen. Der kleine Polithobbit Gysi war der Meinung, die Hamsterkäufe sind wegen des Neoliberalismus entstanden.
Murat konnte mit diesem Begriff nichts anfangen, er wusste aber von Manni, dass schon in der sowjetischen Besatzungszone Hamsterkäufe als Verpflichtung wahrgenommen wurden, gleichwohl die Möglichkeiten dazu wohl sehr begrenzt waren. Manni nannte dieses System immer Planwirtschaft. Vielleicht meinte Gysi neoliberale Planwirtschaft und hatte sich nur versprochen. Eigentlich glaubte er weder an das Ausschwitzen noch an den Neoliberalismus als Gründe, aber er konnte sich gut einschätzen und ihm war klar, seine Lernkurve war flach, vielleicht verstand er es einfach nicht.
Mit der Zeit wurden dann die Ränder still, sie hatten keine Antworten, sie hatten nicht einmal Fragen.
Murat packte weiter die Regale voll und dachte.
Die Dinge sind, wie sie sind und die Menschen auch, sie scheitern immer an ihren Erwartungen. Er war sogar ein bisschen stolz auf seine Gedanken, von Manni lernen heißt eben doch siegen lernen. Nach ein paar Wochen bei dm bekam Murat Rückenschmerzen, er war trotzdem zufrieden.
Die Kunden in seiner Filiale hatten keine Rückenschmerzen, sie waren trotzdem nicht zufrieden. Irgendwie schien Murat aus der Zeit gefallen.
Murat blieb auch weiter zufrieden bei seiner Arbeit, er war nun schon routiniert und konnte auch beim Auspacken die Kunden beobachten, wie sie mit verzerrten Gesichtern Lagerhaltung betrieben, sie sahen ein bisschen wie Jäger aus.
Immer öfter dachte er über die Welt und das Leben nach. Eine Zeit lang blieben die Gedanken diffus, doch dann traf es ihn wie ein Blitz. Einer Katharsis gleich stand plötzlich diese eine Frage vor ihm, was macht den Unterschied zwischen einem Herrn Müller und einem Schäferhund aus. Oft war er nah dran, aber er konnte die Antwort nicht greifen, er kam nicht darauf.
Dann sah er eines Tages seinen Nachbarn, vollbepackt mit viereckigen Paketen, mit seinem Hund aus einer Drogerie kommen.
Da plötzlich sah er den Unterschied zwischen Mensch und Tier, ES WAR DAS KLOPAPIER und vielleicht noch ein paar Nudeln.
Kapitel 3 - Corona-Döner Bonds
Murat dachte, alles wird immer so weitergehen, einfache Arbeiten, sicheres Einkommen, was will man mehr. Dann hatte er noch den Unterschied zwischen Mensch und Tier herausgearbeitet. Die Welt schien in Ordnung, man fuhr auf Sicht und hatte Übersicht. Er hatte sich geirrt.
Immer öfter musste er an seinen Laden denken, auch wenn der Erfolg ausgeblieben war, gerade im März.
dm blieb dm, aber der Laden war sein Laden. Alles war vertraut, Heimat eben. Dann redeten die Leute immer öfter über Soforthilfe. Murat bekam schnell heraus, auf ihn traf Soforthilfe II zu.
Er musste handeln, die erste Antragswelle war schon durch, keiner wusste, wie lange das Geld noch reichen würde. Der Server für die Antragstellung erlitt eine innere Blutung, es schien fast schlimmer als das Virus. Der Handel wurde ausgesetzt, es fühlte sich an wie ein Wettlauf gegen Apollo 13.
Murat