Mit Vertrauen führen. Götz W. Werner
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Die notwendige Aufwertung des Individuellen prallt jedoch in der Regel gegen Management- und Organisationsformen, die vor rund 150 Jahren eingeführt wurden und deren Stoßgebete nur einen Refrain haben: „Ordnung, Ordnung über alles!“ Der Manager interagiert sozusagen mit seiner Verdopplung nach außen, wodurch die Organisation gleichsam die Wir-Form des eigenen Ichs annimmt. Dagegen rebellieren alle individuellen Reflexe. Diese Spannung ist zu spüren in den Anstrengungen zum „Change Management“, in den Klagen über flächendeckende Demotivationslagen, dem Scheitern immer neuer Managementmoden, in der Suche nach Wegen, gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen und zu halten, in der Debatte über „Glasdecken“ und „work-life-balance“, in dem geistlosen Geschwurbel über „purpose“. Verschärft wird die Situation durch das Wegbrechen der Karriereleiter, die früher Organisation und Individuum innig verband.
Was also tun? Wie wecke ich, so fragen Führungskräfte, bei möglichst vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Unternehmergeist? Wie kann ich die individuellen Ziele der Menschen zum Gelingen des Ganzen transformieren? Kann ich der Leistungsbereitschaft der Menschen vertrauen? Wie verträgt sich Individualität mit Organisation? Wie Ausnahme mit Regel? Wie eigene Einsicht mit Hierarchie?
Die Antwort Götz W. Werners lautet: Fluchtverhinderungsscharfsinn funktioniert nicht! Zitat: „Gemeinschaftsleistungen kommen nicht dadurch zu Stande, dass man die einzelnen Menschen durch Gebote, Strukturen oder Regeln im Zaume hält, sondern durch eine weitgehende Entfaltung der individuellen Kräfte.“ Dem entsprechen Werners zentrale Denkfiguren: Verbeuge Dich vor der Individualität, der Unverstehbarkeit des Einzelnen. Sei beständig aufmerksam. Vertraue der Entwicklungsbereitschaft und -fähigkeit des Menschen. Diese Perspektive verdankt sich einer geistigen Wurzel, die ich mit ihm teile: Rudolf Steiners „Philosophie der Freiheit“.
Bei Steiner findet sich auch die Grundfrage aller Führungslehren, die zu beantworten viele Detailfragen quasiautomatisch erledigt: Wie schaue ich den anderen an? Ist er ein Erwachsener - oder ein Kind? Ist er mündig – oder eine Therapiefall? Ist er auf der Welt, um hinter meinen Zielen her zu rennen – oder hat er Ziele, die mit meinen abzugleichen sind? Ist er ein zu veränderndes Artefakt, oder ist er anzuerkennen, so wie er ist? Ist er ein Mängelwesen – oder ist er unmittelbar zur Schöpfung genauso in Ordnung wie ich? Bei Steiner findet sich auch die fundamentale Erkenntnis (die sich heute als „Konstruktivismus“ modisch aufschäumt): Erkenntnis ist nicht wirklichkeits-abbildend, sondern wirklichkeits-erzeugend. Und so lässt sich Werners Wirken auch als pragmatische Wendung der 11. Feuerbach-These Marxens interpretieren: Die Manager haben die Welt nur verändert; es kommt darauf an, sie verschieden zu interpretieren.
Das hat Konsequenzen für die Mitarbeiterführung. Denn Führung, die sich auf individuelle Einzelne, auf Erwachsene bezieht, schaltet den anderen nicht gleich, benutzt ihn nicht als Mittel zum Zweck. Diese Sichtweise erlaubt nur eine Denk- und Sprachgeste: den Dialog. Dialog, der Neugier, wirkliches „inter-esse“ (lat. dazwischen sein) voraussetzt und damit die Welt erweitert, ja überhaupt erst entstehen lässt. Nicht das instrumentalisierte jährliche Mitarbeitergespräch, nicht die Leistungsbeurteilung, nicht die Zielvereinbarung, nein, das Gespräch in Permanenz. Das Gespräch als Begegnung von Erwachsenen. Offen, fair und radikal subjektiv. Klarer, direkter Austausch, Begegnung von Leistungs-Partnern.
Zielvereinbarungen – das war Werner schon früh klar – sind misstrauensgeboren. Und das erzeugt wiederum Misstrauen und Kontrollumgehung. Diesen Zusammenhang verdeutlicht er gerne an der Geschichte von dem Schiffsjungen, der beauftragt wird, jeden Morgen dem Kapitän eine Tasse Kaffee auf die Brücke zu bringen. Am ersten Tag fragt der Koch den Jungen: „Na, hat‘s geklappt?“ „Nein, ich wurde gescholten, weil der Kaffee übergeschwappt war. Ist ja auch kein Wunder bei Windstärke 8.“ „Dann mach‘ doch die Tasse nur halb voll“ rät der Koch. Gesagt, getan. „Na, wie war‘s diesmal?“ fragt der Koch am nächsten Morgen. „Wieder Ärger“, antwortete der Junge, „weil die Tasse nur halb voll war.“ „Dann fällt mir auch nichts mehr ein“ versetzt der Koch ratlos. Am nächsten Morgen aber erzählt ein vergnügter Schiffsjunge dem Koch: „Heute alles super, ich habe die Tasse voll gemacht, einen großen Schluck abgetrunken, bin zur Brücke gegangen, hab‘s wieder reingespuckt – und der Kapitän war glücklich!“ Der ganze Widersinn der Ziele in einer Nussschale.
Menschen sind für Werner keine Zielerfüllungsgehilfen – deshalb gibt es keine Incentives, keine Boni und keine Anreizsysteme. Denn einer dialogischen Führung geht es nicht darum, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf fremdgesetzte Logik und Jetztweltabschaffung einzuschwören. Einer dialogischen Führung geht es auch nicht darum, die Mitarbeiterin oder den Mitarbeiter zu ändern. Führungskräfte haben dann weder einen Erziehungsnoch einen Therapievertrag. Es geht um Beziehung, nicht Behandlung. Die Führungskraft muss frei sein, ihre quasitherapeutische Attitüde über Bord zu werfen und das Anderssein des Anderen anzuerkennen. Das wird ihr nicht gelingen, wenn sie meint, „Patientinnen“ und „Patienten“ vor sich zu haben. Wenn Führung, dann Führung zur Selbstführung. Wenn Entwicklung, dann Selbstentwicklung (und Vertrauen in die Kräfte der Selbstentwicklung). Das kennzeichnet das Führungsverständnis von Götz W. Werner.
Wie man das konkret unterstützen kann, zeigt ein Bericht der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung aus meiner Heimat, dem Ruhrgebiet: „Auszubildende führen eine Drogerie-Filiale“ ist dort zu lesen. „In der Herner Fußgängerzone übernehmen ehemalige Auszubildende für vier Wochen die Leitung des dmdrogerie marktes. Die jüngste ist gerade 19 Jahre alt.“ Das ist angewandtes Vertrauen. Das ist nicht Reden, das ist Handeln.
Wie aber passen personenbezogenen Förderung und Ergebniserfordernis zusammen? Die komprimierte Antwort von Götz W. Werner lautet: „Kümmere dich um die Menschen, dann kümmern sich die Ergebnisse um sich selbst.“ Ein Satz wie in Stein gemeißelt. Werners Denken – das wird von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern immer wieder bestätigt – kreist fortwährend um den einzelnen Menschen, nicht um das Geld. Jemand hat mal geschrieben und ich zitiere es gerne, Werner sei gleichsam der kapitalistische Gegenentwurf zu Dagobert Duck.
Ein Beispiel: Unter der Flagge der Kundenorientierung segelt in den meisten Unternehmen ein Disziplinierungsdiskurs, den sich das Unternehmen strukturell nicht mehr zutraut und deshalb an die Kundinnen und Kunden externalisiert. Ganz anders Werner. Man könne den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern noch so viel über Kundenorientierung predigen oder strenge Regeln einführen; wahre Kundenorientierung, die nicht zur hohlen Phrase gerinnt, fände nur statt, wenn die Arbeit in einem Unternehmen darauf strukturell – ich betone: strukturell! – angelegt ist. Wenn die einzelne Mitarbeiterin und der einzelne Mitarbeiter die Zuwendung an die Kundinnen und Kunden persönlich erlebt und als Erfordernis ansieht. Dann hat er einen konkreten Anlass, sich tatsächlich dem Kunden zuzuwenden. Eines meiner Lieblings-Zitate: „Wer wahrnehmen kann, dass die Kunden ihn brauchen, kann lernen, wie er diesem Erfordernis am besten entspricht.“ Wichtig ist – dem braucht man es nicht zu sagen, der kann es selbst herausfinden. Das korrespondiert mit meiner Erfahrung: Kluge Menschen haben in dummen Organisationen keine Chance.
Geradezu sprichwörtlich ist Werners langer Atem, die Geduld, mit Irrungen und Wirrungen umzugehen, Angst vor der Verantwortung langsam abzubauen, die kleinen und schließlich immer größeren Erfolge zu genießen. Bei Werners dm-drogerie markt ist mir klar geworden, was ich seinerzeit bei Rudolf Steiner nicht sofort verstand: dass alles, was langfristig funktionieren soll, nicht von einem vorgegebenen Ziel gezogen werden kann, sondern aus einer geistigen