Die große Sache. Heinrich Mann
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Читать онлайн книгу Die große Sache - Heinrich Mann страница 15
»Haben Sie mir gar nichts mehr zu sagen?« fragte die Dame auf ihrer vorderen Seite.
Infolgedessen begann er wieder von der Übermacht des Konzerns, der Aussichtslosigkeit, sein eigenes, verantwortliches Leben zu führen, der Sklaverei des Geistes. »Der verfallen alle mit der Zeit, und unsere Gebundenheit führt zu Minderwertigkeitsgefühlen. Ich kann doch nicht einmal die Stadt verlassen, wenn ich es wollte!«
»Wollen Sie es denn?« fragte Nora Schattich und wandte sich zum erstenmal nach ihm um.
»Sie sind egoistisch wie alle Männer, von welcher Generation auch immer. Sie unterhalten mich nur von Ihren eigenen Sorgen, und sogar fortgehen wollen Sie. Als ob ich meinerseits das könnte! Ich bin hier eine Gefangene.«
Sie sagte mit zerbrechlicher Miene: »Ein goldener Käfig ist auch noch ein Käfig. Haben Sie mich denn richtig angesehen?«
»Ich sehe Sie zu viel an«, antwortete er hierauf.
Sie behielt den Ausdruck von Zerbrechlichkeit und Schonungsbedürftigkeit.
»Ich leide unter den Erfolgen eines mittelmäßigen Mannes, an den ich ebenso gebunden bin wie Sie an Ihren Konzern, und mein menschlicher Mehrwert, denn ich bin mehr wert, wird auch im ganzen Leben nicht realisiert. Begreifen Sie das? Ich liege da wie totes Kapital, und meine Zeit vergeht. Noch wäre ich für Berlin geeignet – und dann hier festgehalten sein! Begreifen Sie das?«
»Ich verstehe Sie«, behauptete er bereitwillig.
»Aufregungen am Vormittag sind für mich Gift« – wobei sie in die geheime Gegend ihres Herzens griff. »Läuten Sie meiner Zofe!«
Auf was wartete sie, die Klingel war unter der gläsernen Tischplatte.
»Oder helfen Sie mir, mich niederzulegen!«
Dies wurde stillschweigend vorgezogen. Der junge Mann führte die schöne Vierzigjährige auf ihren Wunsch nach links, und als er die Tür aufstieß, war es wahrhaftig das Schlafzimmer. Ein kleiner Raum, worin der Diwan stand, trennte noch davon, aber wer wartete schon an dem grünseidenen Vorhang, der das Bett nicht verdeckte? Die Zofe Marietta, sie machte ein keusches und ehrfürchtiges Gesicht, wie ihre Dame am Arm des Jungen ihren Einzug hielt.
Besorgt legte sie ihr die Kissen zurecht. Das Bedecken der Beine dagegen deutete Marietta nur an, in Wirklichkeit unterblieb es. Da Nora Schattich die Augen schloß, folgte ihr Bewerber dem klugen Mädchen bis hinter den Vorhang.
»Was ist jetzt zu machen?« fragte er.
»Nur behutsam«, flüsterte Marietta. »Manchmal schreit sie.«
Schon war das kluge Mädchen verschwunden. Den jungen Mann überließ sie seiner schwierigen Lage. Er dachte grade daran, sich gleichfalls zu drücken, da bemerkte er, daß die Dame ihn eigentlich ansah. Ihr Blick lag nur unter ungewöhnlich langen und dichten Wimpern. Oh, sie hatte Schönheiten – auch die unbedeckt gebliebenen Beine … Sie stellte fest, was ihn beschäftigte, und sie fragte harmlos: »Für wie alt würden Sie meine Beine halten?«
»Wenn ich nicht wüßte, daß Sie dreißig sind, ich würde sagen: achtzehn.«
Die Antwort befriedigte sie, sie lächelte leidend. »Rücken Sie mir die Kissen höher! Ich will Sie im Auge behalten, es ist besser für uns beide. Mit wem betrügen Sie übrigens Ihre Frau?«
Er wurde rot. Erbittert mußte er fühlen, daß das Blut sogar seine Ohren färbte. Er stand vor Nora Schattich als dummer Junge, weil er zur unrechten Zeit sich Inges erinnerte. Sie lag ein wenig weit zurück, aber ihr Bild befiel ihn mit erstaunlicher Kraft. Es geschah gradezu körperlich, Inge war so gut wie eingetreten. Eine ganze Weile hörte er Nora Schattich gar nicht sprechen.
Sie mußte etwas erzählt haben von einem Direktor der I. G. Chemikalien – vom Präsidenten sogar, und es bezog sich auf ihre Beine. Oder ein anderer Körperteil war im Spiel, vielleicht der Busen. Sie schien ihn dem Präsidenten zu Ehren hervorgeholt zu haben, wobei sich aber ergab, daß er den Rücken vorzog. Es machte den Eindruck, als würde über einen Braten gesprochen, so sachlich erklärte die Dame dies alles.
»Auch Sie haben, solange Sie irgend konnten, meinen Rücken betrachtet. Ich wußte, was Sie taten.«
Sie hatte hierbei ein Gesicht wie eine Schauspielerin in einer Szene schwerster Seelenkämpfe, denen sie nicht gewachsen ist. Der Junge begann schon wieder seine Sinne zu spüren. Inge, noch soeben gradezu körperlich anwesend, trug zu seiner Erregung eher bei, als daß sie ihr entgegenwirkte. Ihn empörte dies Durcheinander, daher näherte er sich der Dame in feindlicher Absicht. ›Jetzt Prügel!‹ sann er, indes er die Hand an eins ihrer Beine legte.
Sie schien es nicht zu bemerken, sie erzählte vielmehr, daß sie Schattich jeden Augenblick betrügen könne. Was hätte daran gelegen – bei einem solchen Grade innerer Entfremdung und wenn die Frau ihre Freiheit zurückbekam, weil ein Mann ohne inneres Zentrum kein Recht auf ihre Treue hatte!
Das »innere Zentrum« war ihr zur rechten Zeit eingefallen. Sie warf den Mangel daran ihrem Gatten noch einige Male vor. Schattich war ihr zufolge nichts anderes als ein geschickter Macher und eine verkannte Unfähigkeit. Um so schlimmer für seine Frau! Wahrhaftig nicht seinetwegen verzichtete sie auf eine echte Gemeinschaft … Das Bein, auf dem die Hand des Jungen lag, zitterte.
Sondern sie hatte einstmals seelische Verpflichtungen eingegangen – mit einem Mann, den sie selten sah, nie zu erhören gedachte, oft sogar vergaß. Aber es war ein Mann – Nora Schattich konnte an so viel Vornehmheit nur unter Tränen denken. Der Mann, den sie meinte, hatte auf alle gemeinen Vorteile längst verzichtet. Er lebte gerecht und weise. Er hatte viele Kinder und kein Vermögen, ergänzte sie der größeren Deutlichkeit wegen. Hier erkannte der Junge, daß sein Schwiegervater Birk der Mann war. Auch ihn hatte die Unermüdliche in Arbeit gehabt vor wer weiß wie langer Zeit. Endlich nahm der Junge die Hand von ihrem Bein.
Manchmal schrie sie, wie die Zofe Marietta ihm warnend mitgeteilt hatte. Heute hatte sie vorgezogen, eine feinere Musik auf seinen Nerven zu spielen. Aber die Wirkung machte sich fühlbar, ihm war nachgrade ganz schwach. Der Junge von 1929 erprobte zum erstenmal, was Frauen mit erotischer Tradition zu leisten imstande waren. Er sah, daß seine Altersgenossinnen unerfahren und in der Liebe ohne die Lehren der Geschichte waren, genau wie er selbst in anderer Hinsicht. Nora Schattich mußte, wie ihm einfiel, die »Dame von 1880« sein. Von dieser hatte er reden gehört. Die Jahreszahl stimmte nicht, nur der Begriff traf zu.
Dies einmal erkannt, rüstete er sich mit der ganzen Überlegenheit seiner Zeit.
»Oberingenieur Birk hat Sie nicht gehabt«, sagte er klar. »Der Präsident der I. G. Chemikalien hat Sie auch nicht gehabt und ein anderer ebensowenig. Das ist richtig; aber es ist auch das einzige, was ich Ihnen glaube.«
»Schrecklich, wenn man alles glauben müßte«, erwiderte sie. »Es wäre vor Langeweile nicht auszuhalten.«
Sie verriet in diesem Augenblick ein Gesicht, das vielleicht nur vorkam, wenn sie allein war, ein denkendes Gesicht.
»Soll lieber niemand glauben, was von dem allen vielleicht doch wirklich war – und was du versäumst, mein Junge«, sagte sie zu tief für ihn. Bevor er seine Schlüsse gezogen hatte, war sie aufgestanden.
»Ich habe mich doch ausgeruht«, hörte er sie sagen und begriff nicht, warum »doch«. Aber er vermutete, daß es ihn demütigen sollte. Sie fragte auch sofort: »Wer sind Ihre Freunde?«