Die Kraft des Miteinander. Группа авторов
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So versteht sich der Auftrag der Koordination vor allem im Vollzug der Netzwerkarbeit, die sich an einem Paradigma orientiert, das die professionelle Praxis immer auch im Kontext der Beziehungen aller Beteiligten miteinander gestaltet (siehe hierzu vertiefend: Früchtel, Strassner u. Schwarzloos 2016). Jedes Gespräch im Rahmen der Vorbereitungsphase mit den Adressaten konzentriert sich darauf, wer aus dem eigenen Netzwerk dabei sein muss, womöglich aufgespürt oder sichtbarer gemacht werden muss und welche Rolle er/sie übernehmen kann (z. B. eine Moderation während der exklusiven Familienzeit).
Der Fokus professioneller Aufmerksamkeit konzentriert sich hier also vor allem auf die Findung und Förderung von vorhandenen Ressourcen, wobei die Gestaltung geeigneter systemweltlicher Hilfen im Rahmen des Familienrats von der Familie bestimmt wird. Der erste unmittelbare Indikator für professionelles Handeln zeichnet sich somit in der Haltung gegenüber den Hilfe suchenden Adressaten aus, den Menschen als Individuum zu begreifen, das in sein soziales Umfeld eingebettet und in seinem Erleben und Handeln darauf bezogen ist. Es ist anzuerkennen, dass ein entsprechendes Menschenbild die Grundlage für Interventionen ist, die die Adressaten von Hilfen erleben. Wird davon ausgegangen, dass der Mensch lediglich an sich selbst und in seinem individualistischen Wesen etwas verändern muss, um seine Krise zu bewältigen, werden auch die Methoden professionellen Handelns hiernach ausgerichtet.10 Geht man davon aus, dass der Mensch in vielfältigen Beziehungen zu seinem Umfeld nicht nur lebt, sondern auch in Krisen gerät, liegt die Annahme nahe, dass relationale Interventionen aus eben diesen Krisen auch wieder heraushelfen.
Dem Verfahren eines Familienrats liegt die Überzeugung zugrunde, dass ohne die Berücksichtigung der Netzwerke von Individuen, ohne Berücksichtigung ihrer Lebenswelt, nicht langfristig und nachhaltig geholfen werden kann. Jede Krise und die im Rahmen eines Familienrats getroffenen Entscheidungen sind immer auch Ausdruck eines sozialen Ereignisses, in dem vieles sichtbar und veränderbar wird. So wird im Bewusstsein dieser Chance die Geschicklichkeit der Koordination beim Verfügbarmachen von Informationen und Wissen, die dem Familienrat und damit der betroffenen Familie zugänglich ist, zum zweiten zentralen Aspekt professionellen Handelns im Verfahren. Welches Wissen (und nicht Ratschläge) muss ich als Koordination in Gestalt weiterer Expertinnen der Familiengruppe zur Seite stellen, womit der geeignete Hilfeplan angereichert werden kann?
Der Familienrat als Chance, vorhandene Identitätsbilder neu auszurichten
In der phänomenologischen Netzwerktheorie von Harrison White (1992) begreift sich Identität als ein klar nach außen orientiertes Bewusstsein, das nicht ohne die anderen entstehen und fortbestehen kann. Hiermit arbeitet der Familienrat. Die wohl innigste und beständigste Identität liegt in den Menschen, mit denen täglich eine Beziehung besteht. Die Stärkung der anderen stärkt gleichzeitig auch das Individuum. Identität ist hier nicht statisch und in der Verinnerlichung vollendet, Identität ist wie ein temporäres Ergebnis aktueller Beziehungen, meist unbewusst, und manifestiert sich in sozialen Vorkommnissen wie Entscheidungsfindungen, bei denen verschiedene Akteure angesichts ihrer Identitäten divers und auch scheinbar gegensätzlich aufeinandertreffen.11 Im Rahmen von gemeinsamen Entscheidungsfindungen, die wegbereitend dafür sind, bestehende Identitäten der Betroffenen anzusprechen, ist eine Hilfeplanerstellung möglich, die das Potenzial in sich trägt, nachhaltig und langfristig zu wirken. Das soziale Ereignis der Entscheidungsfindung ist im Sinne dieser Theorie die Gelegenheit, nicht nur vorhandene Identitäten lebensweltnah aufzugreifen und anzusprechen, sondern diese auch neu oder anders auszurichten. Bei Familie Özgür ist es in der Informationsphase der Imam mit seinen religiösen Ausführungen zum Schura-Prinzip. Die Religiosität der Familie wird zum Bindeglied. Die muslimische Identität der Familie enthält einen identitätsbezogenen Zugang, die Lebenswelt zu erreichen und hierbei ihre Handlungsfähigkeit aufzuzeigen. Die religiöse Identität überwindet die in der Scheidungssituation erlebte Ohnmacht und spricht eine weiterhin verbindende Identität der Familie an.
Für das Zusammenstellen des Netzwerks geht es nicht nur um das Aufdecken vorhandener Verbindungen der Betroffenen, sondern auch darum, wer mit am Tisch sitzen muss, um geeignete Lösungsideen mit hineinzugeben, und welches Wissen geeignet ist, um die Lebenswelt zu erreichen. In Kindeswohlangelegenheiten, die die Gesundheit betreffen, kann daher auch das Einladen externer Fachkräfte wie beispielsweise Fachärzte sinnvoll sein, um das entsprechende Wissen verfügbar zu machen.
Schlussbetrachtung
Der Familienrat als instrumentelles Paradigma zur Würdigung und Nutzbarmachung von Familien- und Netzwerkbeziehungen eröffnet und erweitert Möglichkeiten, relationale Zusammenhänge für Experten in der konkreten Praxis zugänglicher zu machen. Der Familienrat versteht sich dabei insgesamt als ein Verfahren, das in Anerkennung des Menschen als sozialem Wesen und unter Berücksichtigung kultureller Identitäten nachhaltige Hilfeplanung durch Partizipation und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit gewährleistet.
6mātua whāngai wird ins Deutsche mit Adoptiv-/Pflege-Elternschaft übersetzt.
7Das Wort Whānau bedeutet in der Sprache der Maori »erweiterte Familie«, bezieht also Familienangehörige mit ein.
8Der/dem Sorgenden steht es prinzipiell frei, zurückzukehren. In diesem Fall kam die Jugendamtsmitarbeiterin nicht wieder zurück und ließ sich lediglich das erstellte Protokoll der Familie zuschicken.
9Koordinatoren und Koordinatorinnen für Familienräte können sich hinsichtlich ihres beruflichen Hintergrundes unterscheiden. So gibt es ausgebildete Koordinatoren aus der sozialpädagogischen Fachwelt, wie auch das Modell von Bürgerkoordinatoren, deren Ausbildung zum Familienratskoordinator unabhängig von einer sozialpädagogischen Expertise jedem Bürger zugänglich gemacht wird.
10Hier lässt sich hervorragend an die Kritik der Sozialraumorientierung nach Hinte u. Treeß (2007) anknüpfen, die der einzelfallorientierten Hilfe des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII) vorwirft, alles andere als orientierend am Individuum zu helfen, sondern Familien vorbestimmte Hilfen eher »überzustülpen«. Budde u. Früchtel (2009) skizzieren mithilfe von Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns (1982) und der folgenreichen Kolonialisierung der Lebenswelt eben dieses »Überstülpen« und entfalten am Beispiel des Familienrats eine Alternative dazu.
11Iris Clemens (2016) führt in einem diametralen Verständnis zur Semantik der Identität in der klassischen Pädagogik die netzwerktheoretische Analyse Whites zur Identitätsbildung und deren Konsequenz für die Disziplin vertiefend aus.
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