Die Kraft des Miteinander. Группа авторов
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Wiedergutmachung verharmlost nicht das Fehlverhalten, sie fordert sogar einen Ausgleich ein, der die Situation bereinigt und der für die Lösung des Problems notwendig ist. Wiedergutmachung demütigt und erniedrigt nicht. Im Gegenteil: Sie initiiert aus Widerspruch und Konflikt konstruktiven, wertschätzenden Dialog und positives Handeln. Sie ermöglicht aus einem Fehlverhalten heraus Potenzialentfaltung und Aufblühen, sie schafft Beziehung und Resonanz. Es ist kein Honiglecken, sondern harte Arbeit. Aber der Erfolg kann sich sehen lassen.
2Wiedereingliederungs-Versammlungen mit Häftlingen – wie sie Inhaftierten zugutekommen und nahestehenden Menschen helfen1
Lorenn Walker und Anouck De Reu
»Du bist zu nichts zu gebrauchen«, schreit die Mutter ihre Tochter April an, wobei ihr Spucke aus dem Mund fliegt, bevor sie ihre Lippen wütend vorstülpt. April ist 1958 vier Jahre alt; sie wohnt in einem großen Bundesstaat im mittleren Westen Amerikas. Sie steht dem Alter nach irgendwo in der Mitte von elf Kindern. April erinnert sich, dass, bevor sie 12 Jahre alt war, ihre Mutter »mir sagte, ich solle sterben und es hinter mich bringen. Sie sagte, ich hätte unsere Familie zerstört, und ich sei der Grund dafür, dass sie sich von meinem Vater habe scheiden lassen. Alles, was passiert sei, wäre meine Schuld. Ich hätte all die Probleme verursacht«. April wurde herausgegriffen und während ihrer gesamten Kindheit härter bestraft als ihre zehn Geschwister. Sie erinnert sich, dass ihre Mutter sie einmal, als sie krank war, mehrere Tage lang in einem Zimmer einschloss und ihren Geschwistern »verboten wurde, überhaupt bei mir reinzuschauen«.
April war der »Sündenbock« ihrer Mutter für die Konflikte in der Familie, einschließlich ihrer Eheprobleme. Dass Eltern Kinder zum Sündenbock abstempeln, ist in konfliktreichen Familien weitverbreitet und kann der jugendlichen Entwicklung sehr abträglich sein (Vogel a. Bell 1960). Im Jahr 1967 ist April 14 Jahre alt. Sie geht nicht mehr zur Schule und hat nur die achte Klasse abgeschlossen. Inzwischen hat sie ihr Zuhause verlassen und wohnt mit einer Gruppe von Männern zusammen, die in den Zwanzigern sind. Sie leben in der Regel in verlassenen Gebäuden in der Stadt, die nur wegen eines dort befindlichen großen Automontagewerks überlebt. Aprils Vater ist Werksvorarbeiter und geht nun mit einer Rente in den Ruhestand. Viele der Männer, die Aprils »Familie« werden, nachdem sie von zu Hause weggegangen ist, sind Vietnam-Veteranen oder suchen nach Wegen, um der Einberufung zum Militär zu entgehen. Sie lieben April, die gut aussieht, witzig und klug ist. Sie erwidert die Zuneigung der Männer und hat eine Beziehung mit einem von ihnen. Sie behandeln sie wie eine geachtete kleine Schwester.
Die Männer konsumieren regelmäßig Heroin. April bittet sie, es auch nehmen zu dürfen. Sie verweigern ihr das zunächst. Irgendwann zermürbt sie Aprils Hartnäckigkeit. Sie lassen sie Heroin nehmen, und April wird schnell süchtig. Um ihren regelmäßigen Drogenkonsum zu finanzieren, stehlen die Männer Dinge aus Geschäften und Wohnungen. April verkauft Pillen vor allem an Highschool-Kinder. Als sie 17 Jahre alt ist, ist sie mit einem anderen Mann zusammen, den sie aus der Gruppe heraus kennengelernt hat und dessen Familie wohlhabend ist. 1970 nimmt er sie mit in ein Gästehaus auf einer Ranch in Hawaii, die seiner Familie gehört.
Während der nächsten 45 Jahre nimmt April regelmäßig Heroin und lebt oft auf der Straße. Sie hat vier Kinder, die von ihren Vätern, anderen Familienmitgliedern oder in Pflegefamilien aufgezogen werden.
Im Jahr 2020 ist April 67 Jahre alt und hat nur zu einem ihrer Kinder eine Beziehung, zu Francis, 46 Jahre alt. Francis’ Partnerin ist Malia. Francis hat auch einen Sohn namens Kimo, der 25 Jahre alt ist. Kimo, Francis, Malia und April sind alle schon einmal inhaftiert worden. Aktuell sitzt nur Kimo im Gefängnis ein. Die Hawaiischen Freunde der »Restorative Justice«2 (Hawai’i Friends of Restorative Justice, HFRJ) arbeiten seit einem Jahrzehnt mit allen vier Mitgliedern dieser Familie zusammen und helfen ihnen, sich an die Ressourcen der Gemeinschaft anzudocken, um ihr Leben zu verbessern. Die HFRJ trafen die Familie zum ersten Mal im Jahr 2010, als Francis sich für einen Kurs im staatlichen Frauengefängnis von Hawaii einschrieb: »Restorative Justice als lösungsfokussierte Antwort auf Konflikte und Fehlverhalten«.
Damals sagte Francis, sie habe kein Vertrauen in das Justizsystem, sie glaube, dass sie ihr Verhalten niemals ändern werde und dass ihr am besten gedient sei, wenn sie rebellisch und aggressiv sei. Als sie den Kurs der HFRJ besuchte, wurde sie vom Gefängnis als hohes Sicherheitsrisiko betrachtet. Sie tat nichts, um ihre Fortbildung zu fördern oder irgendeine Therapie zu erhalten, obwohl sie wegen Drogenmissbrauchs ins Gefängnis gekommen war. Statt wegen guter Führung wurde Francis von den Justizvollzugsbeamten häufig wegen Verstoßes gegen die Gefängnisregeln »aufgeschrieben«. Francis sagt, als sie vor zehn Jahren in den lösungsfokussierten Kurs ging, habe sie zum ersten Mal davon gehört, dass es nicht wichtig sei, sich auf ihre Fehler zu konzentrieren; dass sie das Potenzial habe, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen, und sich jede Art von Leben schaffen könne, die sie sich wünsche. Anstatt sich auf ihre Defizite zu konzentrieren und zu versuchen, diese zu beheben, wurde sie ermuntert, über ihre Stärken und ihre Ziele nachzudenken. Francis überzeugte ihre Partnerin Malia, ebenfalls an dem Kurs teilzunehmen.
Francis und Malia lernen beide, dass ihre Gefühle immer gültig sind und dass niemand, auch nicht sie selbst, ihre Gefühle beurteilen sollte. »Spüre einfach achtsam deinen eigentlichen Gefühlen nach, ohne dich auf irgendetwas festzulegen«, lernen sie. Inakzeptabel sei es nur, auf Gefühle in destruktiver Weise zu reagieren, wie z. B. wütend zu werden und jemanden zu schlagen. Diese Impulse tragen dazu bei, dass Francis zunächst in dem lösungsfokussierten Kurs zu einer leistungsstarken Teilnehmerin wird. Die Mitarbeiter, die mit ihr arbeiten, stellen fest, dass sich ihr Verhalten von »bockig« zu »geduldig« verändert. Innerhalb weniger Jahre wird Francis Mitglied einer speziellen Arbeitsgruppe für das Gefängnispersonal (in einigen Gerichtsbezirken »Vertrauensleute« genannt), ausgestattet mit mehr Privilegien, Pflichten und einer kleinen Vergütung. Sie wird zu einer angesehenen Peer-Ausbilderin und zu einem Vorbild für andere. Es findet eine grundlegende Veränderung statt, die bis ins Jahr 2020 andauert. Francis ist außerhalb des Gefängnisses nicht wieder straffällig geworden und arbeitet nun als stellvertretende Leiterin eines Einzelhandelsgeschäfts. Auch Malia profitierte von dem Kurs, obwohl sie einmal einen Rückfall hatte und kurzzeitig wieder inhaftiert wurde. Zurzeit absolviert sie ein Programm gegen Drogenmissbrauch und ist begeistert von dem Gedanken, bald nach einem Job zu suchen. April arbeitet in Vollzeit in einem gut laufenden Einzelhandelsgeschäft und strebt an, sich am Community College als Studentin einzuschreiben. Sie und Francis pflegen weiterhin ihre Beziehung, wobei beide absolut drogenfrei bleiben und sich wie gesetzestreue Bürgerinnen verhalten.
Die HFRJ trafen Kimo, den Sohn von Francis, als er 17 Jahre alt und gerade inhaftiert worden war. Kimo hatte 2012 eine Wiedereingliederungs-Versammlung, als dieses Verfahren im Jugendgefängnis von Hawaii als Pilotprojekt für Jugendliche initiiert wurde. April hatte diese damals besucht. Kimo ist jetzt 25 Jahre alt und befindet sich in einem Gefängnis für Erwachsene, nachdem er rückfällig geworden und zu Drogen und Kriminalität zurückgekehrt war.
In diesem Beitrag wird erörtert, wie die HFRJ dieser Familie mit drei Generationen von inhaftierten Mitgliedern durch lösungsfokussierte und wiedergutmachende Gemeinschaftsbildung geholfen haben. Der Familie fehlten emotionale und gesellschaftliche Ressourcen, um die sozialen Notlagen, denen sie ausgesetzt war, zu bewältigen. Die Wiedereingliederungs-Versammlungen der HFRJ, bei