Pandemie! II. Slavoj Žižek
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Wir sollten unser Imaginäres an dieser Stelle neu justieren und uns von der Vorstellung verabschieden, dass die Entwicklung einen großen eindeutigen Höhepunkt erreichen und die Welt danach allmählich wieder zur Normalität zurückkehren wird. Die Pandemie ist auch deshalb so unerträglich, weil sich die Dinge immer weiter hinziehen, ohne dass die Katastrophe irgendwann eintreten würde – man weist uns darauf hin, dass wir ein Plateau erreicht haben, dann verbessert sich die Situation ein wenig, aber die Krise dauert weiter an. Wie Alenka Zupančič gezeigt hat, erweist sich die Vorstellung eines Endes der Welt als ebenso problematisch wie Fukuyamas Ende der Geschichte: Das Ende geht selbst nie zu Ende, stattdessen hängen wir in einem merkwürdigen Zustand fest, in dem nichts mehr vorangeht. Was wir uns alle insgeheim wünschen, woran wir die ganze Zeit denken, beschränkt sich auf diese eine Frage: Wann wird es endlich vorbei sein? Doch wird es niemals endgültig vorbei sein: Es gibt gute Gründe, die derzeitige Pandemie als ein Ereignis aufzufassen, das eine neue Epoche von ökologischen Problemen einläutet. Schon 2017 wies die BBC darauf hin, welche Auswirkungen unsere Eingriffe in die Natur mit sich bringen: „Der Klimawandel lässt den Permafrostboden auftauen, der seit Tausenden von Jahren gefroren gewesen ist. Dies wiederum bewirkt, dass alte Viren und Bakterien freigesetzt werden, die lange Zeit im Winterschlaf lagen und nun wieder zum Leben erweckt werden.“4
Die Viren sind Untote, die nur darauf warten, wieder zum Leben erweckt zu werden. Die Ironie daran ist, dass ihre „Unsterblichkeit“ an die Hoffnung auf ein ewiges Leben erinnert, die Entwicklungen in der Hirnforschung jüngst geweckt haben. Die Pandemie fällt in eine Zeit, in der sich populärwissenschaftliche Medien besonders an zwei Aspekten unseres digitalen Lebens abarbeiten. Einerseits wird viel über den so genannten „Überwachungskapitalismus“ geschrieben, einer neuen Form von Kapitalismus, in der staatliche Behörden und Privatunternehmen die absolute digitale Kontrolle über unser Leben gewonnen haben. Andererseits beherrscht das Thema des „verdrahteten Gehirns“, das heißt einer direkten Computer-Hirn-Schnittstelle die Berichterstattung in den Medien. Ist mein Gehirn auf diese Weise mit digitalen Geräten verbunden, kann ich nur mit der Kraft meiner Gedanken auf Dinge in der Außenwelt einwirken. Überdies kann eine andere Person an meinen Erlebnissen teilhaben, wenn mein Gehirn und ihres direkt miteinander verbunden sind. Denkt man das Konzept des verdrahteten Gehirns zu Ende, lässt es etwas in greifbare Nähe rücken, was Ray Kurzweil als Singularität bezeichnet hat, den gottgleichen Zustand eines gemeinsamen globalen Bewusstseins. Diese Idee mag einen noch ungeklärten (bis auf Weiteres zweifelhaften) wissenschaftlichen Status besitzen, doch würde ihre Verwirklichung zweifellos zu einer Veränderung der Eigenschaften führen, die den Menschen als denkendes/sprechendes Wesen auszeichnen. Würde eine solche Singularität eines Tages tatsächlich eintreten, könnte man von einem apokalyptischen Ereignis im ursprünglichen Wortsinn sprechen: Es würde die Enthüllung einer Wahrheit bedeuten, die in unserem gewöhnlichen menschlichen Dasein verborgen liegt, das heißt den Eintritt in eine post-humane Dimension.
Es ist bemerkenswert, dass man den weitreichenden Gebrauch von Überwachungstechnologien in vielen Teilen der Welt stillschweigend hingenommen hat: Um die Pandemie zu bekämpfen, wurden nicht nur in China, sondern auch in Italien und Spanien Drohnen eingesetzt. Die spirituelle Vision einer Singularität oder neuen Einheit von Menschlichem und Göttlichem, die Vorstellung von einer jenseits unserer körperlichen Existenz liegenden Glückseligkeit könnte sich daher genauso gut als fürchterlicher Alptraum herausstellen. Von einem kritischen Standpunkt aus lässt sich nur schwer sagen, wovon die Menschheit stärker bedroht wird: von der Zerstörung unserer Leben durch ein Virus oder davon, dass unsere Individualität in einer Singularität verloren geht. Die Pandemie erinnert uns daran, dass wir in unserer Existenz fest an einen Körper gebunden sind und dies mit allen möglichen Gefahren einhergeht.
Ist unsere Situation also hoffnungslos verloren? Auf keinen Fall. Vor uns liegen enorme, nahezu unvorstellbare Schwierigkeiten. Wir müssen damit rechnen, dass über eine Milliarde Menschen ihren Job verlieren werden. Wir werden unser Leben von Grund auf neu gestalten müssen. Klar ist, dass wir in einem völligen Lockdown von unseren Nahrungsmittelreserven und weiteren Vorräten leben müssen. Deshalb stehen wir derzeit vor der schwierigen Aufgabe, den Lockdown hinter uns zu lassen und zu einem neuen Leben unter Pandemiebedingungen zu finden. Dabei stelle man sich nur vor, wie sich die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschieben wird. Bekannte Alltagsszenen in Filmen und Fernsehserien, in denen Menschen unbekümmert die Straße entlangschlendern, Hände schütteln und einander umarmen, werden zu nostalgischen Zeugnissen einer weit zurückliegenden Vergangenheit, während uns das echte Leben wie eine Abwandlung von Samuel Becketts spätem Drama Spiel vorkommen wird, in dem aus drei gleichen grauen Urnen, die auf der Bühne stehen, jeweils ein Kopf hervorscheint, dessen Hals von der mundförmigen Öffnung der Urne fest umschlossen wird …
Wenn wir jedoch eine naive Sichtweise einnehmen (was gerade zu den schwierigsten Aufgaben zählt), können wir uns vergewissern, dass unsere globale Gemeinschaft genug Möglichkeiten hat, auf unser Überleben hinzuwirken und einen bescheideneren Lebensstil hervorzubringen, indem durch globale Zusammenarbeit die Nahrungsmittelknappheit an einem Ort behoben wird oder ein weltweites Gesundheitssystem geschaffen wird, das gegen den nächsten Angriff eines Virus besser gewappnet ist. Werden wir dazu in der Lage sein? Oder stehen wir an der Schwelle eines neuen barbarischen Zeitalters, in dem sich unsere ganze Aufmerksamkeit auf die Gesundheitskrise richtet und sich dadurch Konflikte wie der abermals ausgebrochene Kalte Krieg zwischen den USA und China oder die heißen Kriege in Syrien und Afghanistan weiterhin der Weltöffentlichkeit entziehen? Diese Konflikte verhalten sich ähnlich wie ein Virus: Sie ziehen sich unendlich hin. (Man bemerke, wie Macrons Forderung nach einem weltweiten Waffenstillstand während der Pandemie schlicht ignoriert wurde.) Die Entscheidung darüber, welchen Weg wir einschlagen, betrifft weder die Wissenschaften noch die Medizin, sondern ist durch und durch politisch.
Der erste Mai in der Welt des Virus
Vielleicht ist der erste Mai der richtige Zeitpunkt, um uns von unserer Fixierung auf die Pandemie etwas zu lösen und darüber nachzudenken, was sie und ihre verheerenden Auswirkungen über unsere gesellschaftliche Realität offenbaren.
Mich hat vor allem überrascht, wie die Klassenunterschiede – trotz der billigen Beteuerungen, dass „wir alle im selben Boot sitzen“ – förmlich explodiert sind. Ganz unten in der Hierarchie stößt man auf Menschen (Flüchtlinge, Bewohner von Kriegsgebieten), die unter einer solchen Not leiden, dass ihr größtes Problem nicht Covid-19 ist. Während unsere Medien diese Menschen immer noch weitgehend ignorieren, werden wir mit Bildern von sentimentalen Beifallsbekundungen für Krankenpflegerinnen bombardiert, die in unserem Kampf gegen das Virus an vorderster Front stehen – die britische Luftwaffe flog sogar eine Ehrenformation über ihre Köpfe hinweg. Doch sind die Krankenhausmitarbeiterinnen nur die sichtbarsten Vertreterinnen einer ganzen Klasse von Pflege- und Servicekräften, die eindeutig ausgebeutet wird, wenn auch auf andere Weise, als sich dies der Marxismus im Fall der alten Arbeiterklasse vorstellte; für David Harvey bilden diese Menschen eine „neue Arbeiterklasse“:
Diese Arbeitskräfte kümmern sich um die stetig wachsende Gruppe