Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Katharina Bock

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Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts - Katharina Bock Beiträge zur nordischen Philologie

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zwischen christlichem Heilsgeschehen und dem sich neu erfindenden Dichter als kunstreligiösem Erlöser; literarische Juden und Jüdinnen als Türöffner für unwahrscheinliche, bisweilen märchenhafte Erzählmöglichkeiten; jüdische Gegenfiguren zur Kontrastierung der „guten“ mit den „schlechten“ Juden aber auch christliche Gegenfiguren zur Kontrastierung des „wahren“ mit dem „falschen“ Christentum; nicht zuletzt ist die Verbindung zwischen Geschlecht und Religion augenfällig in diesem Fadenspiel aus Aktivität und Passivität, Sehen und Gesehenwerden, Erlösen und Erlöstwerden, Vergehen und Werden, Alt und Neu.

      In diesem ersten, einleitenden Analysekapitel habe ich gezeigt, auf welche Weise literarische Texte untereinander und mit anderen Kunstformen über Epochen, Genres und Landesgrenzen hinweg in Kontakt treten und welche Vielfalt an mitunter unerwarteten Verknüpfungen und Querverbindungen die jüdischen Figuren hierbei ermöglichen. Anhand von IngemannsIngemann, Bernhard Severin Novelle Den gamle Rabbin wurden, ergänzt durch den Vergleich mit zwei sehr unterschiedlichen Texten von AndersenAndersen, Hans Christian, literarische Topoi und Motive vorgestellt, die in den untersuchten Texten der folgenden Kapitel immer wieder aufgenommen, variiert, modifiziert und teilweise gebrochen werden. Unwahrscheinliches und Phantastisches wird in den Romanen und Novellen erzählt, immer wieder geht es um die Suche nach Gott und der Wahrheit, aber auch um eine nationale Selbstfindung, um eine gesellschaftspolitische Positionierung, um Geschlechterbilder und nicht zuletzt immer wieder um die Kunst selbst. Wenngleich Ingemanns jüdische Figuren nicht aus dem Nichts entstanden sind, sondern sich bereits in eine literarische Tradition einschreiben, legt Den gamle Rabbin doch eine Grundlage für die Vielzahl der dänischen Erzähltexte, die in den folgenden Jahren erscheinen.

      Ein Spukschloss, zwei holländische Juden, drei geheimnisvolle Porträts. Ein altes Tagebuch, das von der Liebesgeschichte zwischen einer Jüdin und einem Christen erzählt, eingemauert im Keller des Schlosses, entdeckt und exklusiv präsentiert vom Autor der Novelle selbst. So lassen sich die Eckdaten der Novelle Jøderne paa Hald [Die Juden auf Hald; 1828] von Steen Steensen BlicherBlicher, Steen Steensen (1782–1848) umreißen. Der Text ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert und verdient eine eingehende Betrachtung, die er in der Blicherforschung bisher nicht erhalten hat.1 Zum einen gehört er zu den ersten dänischen Erzähltexten, in denen jüdische Figuren überhaupt auftauchen, zum anderen erscheint er bisweilen irritierend unlogisch, was, wie ich zeigen möchte, weniger auf einen Mangel an Qualität zurückzuführen ist2 – Blicher gilt heute gerade aufgrund seiner literarischen Virtuosität und seines kunstvollen, bisweilen unzuverlässigen Erzählstils als herausragender Autor seiner Zeit (vgl. Müller-Wille 2016: 163–164).3 Vielmehr sind die vermeintlichen Schwächen in der Logik des Textes im Zusammenhang mit den jüdischen Figuren zu verstehen. Im Folgenden werde ich aufzeigen, wie sich die Novelle mit dem zeitgenössischen Diskurs über Juden und Jüdinnen auseinandersetzt, Stereotype aufgreift und modifiziert und dadurch ihrerseits den Diskurs mitgestaltet. Zunächst jedoch soll der Entstehungskontext der Novelle skizziert werden.

      3.1 Blichers Juden in Jütland

      BlicherBlicher, Steen Steensen gilt als derjenige dänische Autor, der die Landschaften Jütlands und deren Bewohner auf die literarische Agenda des kulturellen Zentrums Kopenhagen gesetzt hat. Der Blick der Intellektuellen, Gebildeten und Kulturschaffenden der Hauptstadt richtete sich bis dato kaum auf Orte und Landschaften außerhalb Kopenhagens und dessen unmittelbarer Umgebung, und eine literarische Darstellung von dänischen Handlungsorten oder Figuren außerhalb Kopenhagens war äußerst selten (vgl. hierzu Behschnitt 2006). Insbesondere Jütland galt als wild und öde, unzivilisiert und sowohl kulturell als auch landschaftlich uninteressant. Blicher wurde in Jütland geboren und entschied sich als Sohn eines Pfarrers für das Theologiestudium in Kopenhagen. Nach dem Studium kehrte er nach Jütland zurück, wurde schließlich selbst Pfarrer, was ihm ein geregeltes Einkommen sicherte, und verbrachte dort sein gesamtes Leben. Er prägte durch seine Literatur die Vorstellung von Jütland als einem exotischen Ort, der vielfach symbolisch aufgeladen werden konnte und an dem imaginiertes Eigenes und Anderes, Dänisches und Fremdes zusammentreffen und changieren konnten. In seinem literarischen Schaffen verband Blicher, so formuliert es Wolfgang Behschnitt in seinen Buch Wanderungen mit der Wünschelrute, „[d]die Identifikation mit Jütland, das Schwergewicht des Topographischen und die realistische Darstellungsweise“ miteinander. Er sah in seinem Schreiben ein „Mittel der literarischen Selbstdarstellung“ (Behschnitt 2006: 342) und der Selbstinszenierung als „der einsame, verkannte und unerhörte Poet auf der Heide“ (Behschnitt 2006: 343).

      An diesem literarisch noch unbeschriebenen und autobiografisch aufgeladenen Ort, der jütländischen Heide, platziert BlicherBlicher, Steen Steensen in seiner Novelle Jøderne paa Hald eine jüdische Familie aus Amsterdam. Die Novelle erschien 1828, doch es ist nicht das erste Mal, dass Blicher über Juden schreibt. Bereits 1813 hatte er sich an der „literarischen Judenfehde“ beteiligt (vgl. Kapitel 1.3). Als Befürworter der Gleichstellung der Juden hatte er in zwei Schriften (Blicher 1983a, 1983b) aktiv Stellung gegen das judenfeindliche Pamphlet Moses und Jesus von BuchholzBuchholz, Friedrich und dessen Übersetzer ThaarupThaarup, Thomas (Buchholz/Thaarup 1813) bezogen. Blichers Novelle Jøderne paa Hald, die 15 Jahre später erschien, wird in der Forschung meist lediglich als literarisierte Version seines politischen Standpunktes interpretiert (vgl. z.B. Kjærgaard 2011, 2013: 49–65; Törne 1980: 13–15; Tudvad 2010: 338–339), der allerdings keineswegs so eindeutig ist, wie die vereinfachende Einteilung in „Gegner“ und „Befürworter“ der Judenemanzipation suggeriert. Die Frage nach Blichers Haltung stellt sich insbesondere im Hinblick auf zwei Artikel, die 1838 und 1839 unter dem Pseudonym „Ø“ erschienen, und in denen der Verfasser sich deutlich gegen das passive Wahlrecht von Juden und somit gegen die weitere und endgültige Gleichstellung ausspricht (Blicher 1928, 1929). Die Verfasserschaft Blichers ist zwar nicht belegt, schien den Herausgebern der gesammelten Werke Blichers 1928/1929 jedoch wahrscheinlich genug, um die Texte in die Gesamtausgabe aufzunehmen (vgl. Albøge 1987: 27). Die scheinbare Widersprüchlichkeit zwischen den emanzipationsbefürwortenden Blicher-Schriften von 1813 und der ablehnenden Haltung, die in den beiden Artikeln von 1838 und 1839 zu Ausdruck kommt, war einer der Gründe für den Literaturwissenschaftler Björn von Törne, die Autorschaft Blichers bei den Ø-Texten anzuzweifeln (Törne 1980: 27). Gordon Albøge, Mitglied der dänischen Blicher-Selskab, reagierte 1987 mit einer akribischen Darlegung, warum Blichers Autorschaft im Falle der Ø-Texte keineswegs unwahrscheinlich sei. Peter Tudvad, der in seiner Monografie zu KierkegaardsKierkegaard, Søren Antisemitismus auch ausführlich Bezug auf das gesellschaftliche und politische Umfeld Kierkegaards nimmt, sieht sich wie Törne „fristet til at identificere [Ø] med biskop (Nicolai Esmark) Øllgaard [versucht, Ø als Bischof (Nicolai Esmark) Øllgaard zu identifizieren]“ (Tudvad 2010: 167), wobei Tudvad nicht mit dem vermeintlichen Widerspruch zu Blichers früheren Texten argumentiert, sondern die Verfasserschaft, da sie sich nicht eindeutig klären lässt, schlicht offen lässt. Kristoffer Kjærgaard wiederum zeigt sich von der Verfasserschaft Blichers überzeugt und sieht wie Albøge keinen Widerspruch zwischen den früheren, emanzipationsfreundlichen Pamphleten Blichers und den späteren Polemiken von „Ø“. Kjærgaard argumentiert, dass eine widersprüchliche oder sich verändernde Haltung genuiner Teil des semitischen Diskurses sei. Damit benennt Kjærgaard den Punkt, der auch bei der Lektüre der Blicher-Novelle, aber auch aller anderen Texte dieser Untersuchung augenfällig ist: die Ambivalenz und das Changieren der ‚philosemitisch‘ zu nennenden Texte, in denen immer auch die Möglichkeit zur Judenfeindschaft und zur Inakzeptanz gegenüber Juden und Jüdinnen mitschwingt. So bezieht Kjærgaard, wie vor ihm bereits Törne und Albøge, auch die Novelle Jøderne paa Hald in seine Arbeit zur politischen Verfasserschaft Blichers ein und liest sie als literarisierte Version von Blichers politischem Standpunkt: „,Jøderne paa Hald‘ har et klart didaktisk sigte og en politisk pointe at formidle, en pointe der først og fremmest åbenbarer sig, når den betragtes i relation til Blichers tekster om den jødiske tilstedeværelse [‚Jøderne paa Hald‘ hat eine klare didaktische Ansicht

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