Vom Ende einer Rütlifahrt. Rolf Käppeli

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Vom Ende einer Rütlifahrt - Rolf Käppeli

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weiß.« Hans nickt. »Sicher gibt es leichtere Arbeiten, vielleicht im Rangierbereich. Ich kann mich umschulen lassen, um eine Werklokomotive zu führen.«

      Otto wippt mit dem Kopf hin und her. Im Gesicht sind die Jahre, die er in der Fabrik gearbeitet hat, in Furchen gebrannt, die Stimme ist ernst, die Augen wirken müde. 32 Jahre hat er in verschiedenen Werkbereichen geschuftet, immer zur Zufriedenheit der Vorgesetzten. Momentan hilft er im Düngerbau, wo mehr Aufträge hereinkommen. Im Umfeld schätzt man seine entschlossene Art zuzupacken, die sicheren Handgriffe an den Maschinen. Wenn es etwas von Hand zu transportieren gibt, ist seine Hilfe gefragt. Er weiß: Sein Wort hat Gewicht, unter Kollegen wie bei Vorgesetzten. Nur einmal hat Otto seiner Wut in der Fabrik freien Lauf gelassen, vor zwei Jahren, als man ihn zunächst bei einer Jubiläumsgabe übersehen hatte. Der verantwortliche Leiter hat sich bei ihm entschuldigt. Das Geschenk, eine festliche Uhr, trägt Otto seither am Sonntag. Damit war die Sache für beide erledigt. Nächstes Jahr wird Otto 55, an eine Pensionierung ist noch lange nicht zu denken. Er würde auch sich eine andere Arbeit gönnen.

      »Braucht die Fabrik neue Lokführer?«

      »Ich weiß es nicht, jedenfalls brauche ich einen neuen Arbeitsplatz.« Hans blickt Otto entschlossen an. »Wir werden die Schicht, wenn es klappt, aufeinander abstimmen.«

      Otto überlegt. »Wann bist du in die Fabrik eingetreten?«

      »Vor 25 Jahren. Vater und Großvater waren noch mit im Betrieb.«

      Es wird dunkel, ein fahles elektrisches Licht geht an.

      Hans nimmt die Brille ab, putzt die Gläser mit dem Taschentuch. »Der Vater hat es zum Fabri­kationsleiter gebracht. Seit er vor einem Jahr in Rente ging, steht er tagein, tagaus in Wigets Rebberg. Er kennt den Weinbau wie kein anderer und erzählt Geschichten, die man in der Fa­brik ungern hört.«

      »Welche denn?«

      »Er berichtet von Verbrennungen an den Reben. Beklagt Schäden, die vom Schwefelgas der Fabrik kämen.«

      Otto schaut Hans skeptisch an. »Woher weiß er das?«

      »Die meisten Bauern in der Umgebung schimpfen. Die Ernte ist in den letzten Jahren kleiner geworden.« Hans zuckt mit den Schultern. »Einen stichfesten Beweis haben sie nicht, die Schäden können mit dem schlechten Wetter zusammenhängen.« Er hält inne. »Allerdings, die rotbraunen Spuren an den Rosskastanien, die du in der Badeanstalt findest, deuten auf die gleiche Ursache.«

      Otto rümpft die Nase. »Man sollte dem nachgehen.« Er hält inne. »Vor allem müsste man, wo wir arbeiten, für mehr Sicherheit sorgen.«

      Hans nickt. »Mein Großvater zog sich am Ofen Verbrennungen zu, er ist daran gestorben.«

      Otto macht ein verdutztes Gesicht. »Dein Großvater? Weiß Gamper davon?«

      »Ja, und der Gewerkschaft ist auch bekannt, dass sich vor 20 Jahren zwei Kollegen beim Ausräumen des Salpetersäure-Ofens vergiftet haben, einer mit tödlichen Folgen.«

      »Das höre ich zum ersten Mal.«

      »Man hat es nicht an die große Glocke gehängt, der Zusammenhang mit der Vergiftung wurde bestritten. Man wollte, dass man die Sache im Nachhinein abklärte – vergeblich.«

      »Hat deine Großmutter, als ihr Mann starb, eine Abfindung bekommen?«

      »Bis zu ihrem Tod bezog sie eine kleine Rente von der Witwen- und Waisenkasse der Fabrik. Zusammen mit dem, was die Putzarbeiten in den Herrschaftshäusern am See einbrachten, reichte es zum Überleben.«

      3

      Arm in Arm spazieren Karl und Erika Krütli über den Bahnhofsplatz, vor ihnen schlendert eine Gruppe von Angestellten vorbei an Pferdedroschken, wo Kutscher gelangweilt auf Touristen warten. Es ist 8.30 Uhr. Mit der Hand deutet Karl schräg hinüber zum See.

      »Dort, Liebste, an der Landebrücke 3, erwartet uns das Prunkstück der Waldstätterflotte. Hier beginnt unsere Hochzeitsreise.«

      Erika schaut Karl vertrauensvoll an, sie ahnt, was kommt.

      »Wenn wir mit der großen Familie auf dem Wasser sind, vergessen wir, was uns Sorgen macht: den Krieg, das Geschäft, die Zukunft. Du wirst begeistert sein.«

      Karl strahlt. »Ich habe den stolzen Raddampfer für dich und uns alle gemietet, Erika. Es wird eine unvergessliche Fahrt.«

      »Ich freue mich, was für ein wunderbares Geschenk!«

      Erikas Stimme wird leiser. »Kannst du das, Liebster: Alles vergessen, was dich beschäftigt?«

      Karl holt Atem, reckt die Brust. »Auf dem Schiff, im Schillerstübli, bei einem guten Glas Weißen, oder auf dem Oberdeck neben dem Kapitän, umringt von Schweizer Bergen, da entschwebt, was uns bekümmert.« Die Augen des groß gewachsenen Mannes weiten sich.

      Er spricht, denkt Erika lächelnd, als übte er für die Rede auf dem Festplatz.

      »Wir befinden uns im Herzen der Schweiz. Schau dich um, diese Kulisse: hinter uns der Pilatus, vor uns der schönste See in Europa, eine landschaftliche Perle. Wem die stolze Natur der Urschweiz die Seele nicht erwärmt …«, sein Blick gleitet hin zu Rigi und Bürgenstock, »wem der heutige Tag den Glauben an das Unternehmen und unser Land nicht stärkt, dem ist nicht zu helfen.«

      »Gewiss, mein Schatz.« Erika schaut zum Ufer, wo zwei Höckerschwäne schwerfällig über steiniges Gefälle hinab ins Wasser watscheln. Mit kräftigen Stößen schwimmen sie davon.

      Auf Karls Stirn bildet sich eine Sorgenfalte. »Freust du dich nicht?«

      Erika, den Schalk im Gesicht, blickt Karl verschmitzt an.

      »Welche Frage, hochgeschätzter Reiseleiter!«

      Erika zweifelt nicht an Karls Willen, ihr einen unvergesslichen Tag zu schenken. Er wird keinen Aufwand scheuen, dafür zu sorgen, dass sich der Hochzeitstag tief in ihr Gedächtnis einbrennen wird. Dies, hofft sie, wird helfen, Unebenheiten, die am Horizont ihrer Beziehung schon früh aufgetaucht sind, zu glätten. Seit sie mit Karl in der Fabrikantenvilla in Rustikon wohnt, hört Erika in Abständen von kleinen Fehltritten, die er an ihr beobachte. Ein unverblümtes Wort, locker hingeworfen am Mittagstisch der Krütlis, eine unpassende Bemerkung bei einem gesellschaftlichen Anlass. Es seien Ausrutscher, schwächt sie dann ab, Patzer, die ihr passieren. Unangenehm aufgefallen, vermerkte Karl einmal, sei ihm ihr Fraternisieren mit der Hausangestellten. Im Übrigen hätten ihn die skeptischen Blicke gestört, wenn er einen Arbeiter oder Angestellten wegen unstatthaften Widersprechens zurechtweisen müsse; das passe nicht zum Stil des Hauses, tadelte er.

      Erika nimmt Karls Nadelstiche nicht auf die leichte Schulter. Manchmal steckt sie den Argwohn weg, den Karls deftige Art bei ihr auslöst. Sie ist 18 Jahre jünger als er und überzeugt, dass der unübersehbare Altersunterschied sie im ehelichen und gesellschaftlichen Kräftemessen begünstigt. Ihr jugendliches Auftreten federt Unstimmigkeiten ab, es verschafft ihr Freiraum, den sie nutzt. In dieser Haltung wird sie bestärkt durch ihre Freundin Christa, deren Einsatz für den fabrikeigenen Kindergarten sie schätzt. Ihr vertraut sie als Einzige die Zwistigkeiten ihrer Ehe an. Karls Frostigkeiten schmelzen in der Regel angesichts Erikas verführerischen Charmes. Anderseits ist Erika bewusst, dass sie mit Karl den Spross einer industriellen Familiendynastie geheiratet hat. Diese Verpflichtung verträgt keine Leichtfertigkeiten, keine

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