Vom Ende einer Rütlifahrt. Rolf Käppeli

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Vom Ende einer Rütlifahrt - Rolf Käppeli

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dem Standesamt gegeben hat, war ein Kompromiss, gestand sie Christa, keine Liebesheirat. Kommt hinzu, dass einige Regeln im Umgang, die seit Urzeiten in Karls Familie gelten, jenen einer mittelständischen Kaufmannsfamilie wenig entsprechen, im Umgang innerhalb der Familie, im Betrieb, im Kontakt mit Kunden. Die Krütlis, hat Erika gelernt, haben eigene Sitten und Rituale, die gepflegt werden, ungeschriebene Gesetze, geformt und gefestigt über 130 Jahre, als die Vorfahren den Grundstein zur wirtschaftlichen und familiären Erfolgsgeschichte legten.

      In der kurzen Zeit ihrer Ehe lebt Erika eine Form der Anpassung, mit der sie noch unzufrieden ist. Die Unterschiede zwischen Karl und ihr findet sie spannend. Sie bewundert jene charakterlichen Züge an ihrem Mann, die auch ihrem Wesen entsprechen: die Liebe zur Natur, das Interesse an Pflanzen und Insekten, die Wertschätzung des Vogelschutzes. Karls Bekenntnis zur Umwelt hat die beiden einander nähergebracht. Mehr als es gegen außen den Anschein machte. Was es in Karls Verwandtschaft und im Betrieb hinter vorgehaltener Hand zu reden gibt, die schwachen wirtschaftlichen Motive der Liaison und die lebenslustige Jugendlichkeit der Ehefrau, das alles gehört zur Oberfläche, findet Erika, es ist Stoff für Tratsch und Klatsch. Erika fasziniert Karls untergründiges Wesen, die Gegensätze in seinem Leben. Die Aufgaben des obersten Fa­brikherrn stehen in auffälligem Kontrast zu seinem beherzten Einsatz für gefährdete Tier- und Pflanzenarten: Karl, der große Naturfreund, führt ein Unternehmen, das einen internationalen Ruf darin erworben hat, wirksame chemische Mittel für die Agrarwirtschaft zu produzieren, giftige Stoffe zur Förderung pflanzlichen Wachstums, namentlich auch stinkige Schwefelsäure für Industrieprodukte.

      Die Angst vor ehelicher Langeweile kenne sie nicht, versicherte Erika ihrer Freundin einmal, als beide aus dem Nähkästchen plauderten. Bei aller Anstrengung, die das Schicksal ihr abverlange: Ihr Mann sei eine zwar nicht einfache, aber interessante Persönlichkeit, von der sie viel lerne.

      Karl lächelt, schaut hinüber zu den hochschießenden Fontänen vor dem Kunsthaus. Er kenne den Architekten des Baus, erzählt er Erika, von der Landesausstellung 1939 in Zürich, ein bedeutender Mann. Überhaupt sei die Luzerner Kai­anlage ein historischer Ort: Als Heerespolizist habe er vor vier Jahren, nach der militärischen Niederlage Frankreichs gegen Deutschland, miterlebt, wie 500 hohe Offiziere auf ein Schiff gestiegen seien, um auf der Rütliwiese vom General zu vernehmen, dass die Schweizer Armee, wenn sie die Grenzen nicht mehr verteidigen könne, sich zurückziehen werde in die Alpenfestung, ins Reduit um den Gotthard, uneinnehmbar. Der Plan sei noch heute so etwas wie eine militärische Lebensversicherung für die Schweiz, bekräftigt Karl. Die Schifffahrt und das Treffen im Juli 1940 sei, wenn auch riskant – die gesamte Armeespitze auf einem Schiff –, ein imposantes Zeichen des schweizerischen Widerstandswillens gewesen. Unter anderem gegen jene politischen Kräfte in Bern, die einen Anschluss an Hitler-Deutschland begrüßt hätten.

      Erika schaudert, als Karl ihr ausmalt, was die möglichen Folgen wären: Das schweizerische Mittelland würde dem Feind überlassen – wer immer dies wäre. Das Militär würde Brücken und Tunnel zerstören, wichtige Transportwege in der Schweiz unterbrechen, notabene, fügt Karl mit grimmiger Miene hinzu, mit Sprengstoff aus seiner Fabrik.

      Als die »Schweizer Filmwochenschau« und die Zeitungen von der Absicht des Generals berichteten, war man in der Schweiz verunsichert. Die Strategie, dem Feind den Eintrittspreis ins Land so teuer wie möglich zu machen, leuchtete Erika ein. Doch das politische Dilemma, auf welcher Seite man im Ernstfall stehen würde, war unangenehm, ja bedrohlich. Karls Unternehmen geriete in fremde Hände. Man wäre nicht mehr neutral, würde zum Kollaborateur. Als Hitlers Handlanger oder im Sold der Alliierten.

      Man müsste fliehen.

      Nur: wohin?

      4

      Karl zieht die buschigen Brauen hoch. Jetzt, wo er über den schwankenden Laufsteg mit Erika den mächtigen Dampfer betritt, der sie zum Höhepunkt der Reise führen wird, dem feierlichen Moment auf dem Rütli, steigt ihm ein Bild auf: die Erinnerung an die erste Begegnung mit Erika vor zwei Jahren, den Anfang ihrer Beziehung.

      Albert Bachofen, ein Ostschweizer Kunde aus der Textilbranche, war zu einem Geschäftsessen an den Hauptsitz des Unternehmens nach Rustikon geladen. Im Garten der Fabrikantenvilla erklärte Bachofen zu Karls Verwunderung, die Frau, die ihn begleite, sei seine Sekretärin und Tochter. Die herrschaftliche Runde hatte die attraktive Frau gemustert, so unauffällig wie möglich, Karl etwas länger, als die Situation es gebot. Erikas feingliedriger Körper, das kräftige Haar, das in blonden Wellen das Gesicht umrahmte, die geschwungene Nase über dem einnehmend lächelnden Mund, all das imponierte ihm. Ihr Auftreten im Fabrikgarten verband vornehme Schönheit mit Bodenständigkeit. Die junge Frau entflammte das Herz des klugen Technikers und gewieften Geschäftsmannes.

      Erika Bachofens stolzes Wesen zog Karl Krütli in Bann.

      Zwei Wochen nach dem Besuch in Rustikon reiste Karl zu den Bachofens in die Ostschweiz. Er lud Erika zu einer Schifffahrt auf dem Bodensee ein, führte sie beim Gegenbesuch ins Rifferswiler Moor, tat einiges, um der Angebeteten seine Naturverbundenheit und Vogelliebe zu zeigen.

      Den Gang abseits der Büros zu den glühend heißen Brennöfen, in die Hallen mit den lärmigen Maschinen, zu den Kesseln und Gruben mit den stinkenden Säuren, den Anblick der gefährlichen Hängebahnen, der Pyritberge und staubigen Lagersilos, dies alles ersparte ihr Karl. Er umwarb Erika mit der leicht ausgetrockneten Liebeskunst eines 40-jährigen Junggesellen und hoffte, dass die Aussicht auf ein neues Liebesglück sein vom Fabrikalltag gestähltes Herz erweichen würde.

      Die gemeinsamen Ausflüge schufen Vertrauen. Es war, als bewegten die beiden sich wie Wasservögel auf moorigem Grund, suchten Schritt für Schritt einen gangbaren Pfad, der sie auf festen Boden führte. Nachdem Erika von ihrer Familie anerkennende Zeichen zur Liaison erhielt, gab es keinen Grund mehr, der gegen eine Hochzeit sprach.

      Briefe wechselten die Seiten, feurige Zeilen bezirzten weibliche Erwartungen.

      Das Standesamtliche ebenso wie Erikas Einzug in die Fabrikantenvilla wurde ohne Feierlichkeiten geregelt – die Hochzeitsreise musste warten. An eine Unternehmung ins Ausland war nicht zu denken. Rund um die Schweiz herrschte Krieg, die Grenzen waren geschlossen. Karl und Erikas Hochzeit musste anderswohin führen.

      Es ist Zeit für eine patriotische Reise, beschied Karl.

      Fünf Jahre davor, als Erika 18 war und er noch nicht an ihrer Seite, hatte das Unternehmen die Fabrikangehörigen an die Landesausstellung nach Zürich geführt. Zu seinem Geburtstag hatte Karl den Arbeitern und Angestellten einen unvergesslichen Tag geschenkt. Der Ausflug ist den Mitarbeitern in wacher Erinnerung geblieben. Es herrschte landesweit eine patriotische Stimmung. Man spürte die nationale Bereitschaft zum Widerstand, die geistige Landesverteidigung tat ihre Wirkung. Der politische Kompass im Land wurde neu ausgerichtet. Sollte in Europa passieren was immer: Man war bereit und gerüstet.

      Die Mobilmachung der Armee, die wenige Wochen später Karls Fabrikpersonal dezimierte, war keine Überraschung mehr. Karl erinnert sich: Drei Tage nach dem Fabrikausflug an die Landesausstellung wandte sich General Guisan statt des Bundesrats an die Besucherinnen und Besucher – das Militär übernahm.

      »Es ist mir eine Ehre und große Freude, das Hochzeitspaar auf unserem altehrwürdigen Raddampfer zu begrüßen.« Die Worte des Kapitäns reißen Karl in die Gegenwart zurück. Jemand muss dem Schiffsmann zugeflüstert haben, wer gerade an Bord kommt.

      »Herr und Frau Krütli, seien Sie herzlich willkommen.«

      »Besten Dank, Herr Barmettler, wir freuen uns auf die Fahrt.«

      »Darf ich Sie mit dem Schiffsinneren vertraut machen? Hierdurch geht’s zum Salon.«

      Karl

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