Gefangen in Frankreich 1870. Theodor Fontane
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7 Uhr früh rasselte der Wagen über das Pflaster und hielt vor meinem Hotel. Ich war fertig; eine Viertelstunde später lag Toul hinter uns.
Bis Vaucouleurs sind drei Meilen. Von rechts her traten mächtige Weingelände, in der Mitte des Abhangs mit helleuchtenden Dörfern geschmückt, bis an die Straße heran; nach links hin dehnten sich Fruchtfelder, dahinter Bergzüge, oft in blauer Ferne verschwimmend. Es war eine entzückende Fahrt; die Chaussee bergansteigend und wieder sich senkend, dann und wann ein Flußstreifen, eine Wassermühle, dazu rund umher das Herbstlaub in hundert Farben schillernd. Ehe wir noch die erste große Biegung des Weges erreicht hatten, erfüllte sich, was sich immer zu erfüllen pflegt: ein Fußgänger stand am Wege und bat, aufsteigen zu dürfen. Der Kutscher stellte ihn mir als einen seiner „Freunde“ vor. Ich kann nicht sagen, daß er mir dadurch besonders empfohlen worden wäre, und ich rückte meine Reisedecke etwas unwillkürlich zurecht. Ich hatte aber unrecht. Der neue Fahrgast erwies sich als eine freundlicher, angenehmer Mann; plaudernd über Krieg und Frieden fuhren wir um 10 Uhr in Vaucouleurs hinein.
Ein reizender kleiner Ort. Der Kutscher hatte zwei Stunden dafür festgesetzt, Zeit genug, die alte Kapelle und das leidlich wohlerhaltene Schloß des „Ritters Baudricourt“, das die Stadt beherrscht, zu besuchen. Über diese Einnerungsstätte zu berichten, ist hier nicht der Ort. Um 12 Uhr weiter nach Domremy.
Domremy, das von den Bewohnern dortiger Gegend immer nur Dormy ausgesprochen wird, liegt noch dritthalb Meilen südlich von Vaucouleurs. Das Terrain verändert sich hier etwas und nimmt mehr und mehr den Charakter eines Degilees (Hohlweg, Engpaß) an. Die Höhenzüge zur Rechten bleiben dieselben; aber von gegenüber treten die Berge näher heran, während unmittelbar zur Linken ein breites Wiesental sich zieht, drin die Meuse fließt; das Ganze nicht ohne Reiz, aber ein wenig kahl und verbrannt, voll frappanter Ähnlichkeit mit dem Nuthetal, das sich von Potsdam aus, an Saarmund vorbei, bis hinauf an die alte sächsische Grenze zieht. Halben Weges erreicht man Burey en Vaux, das Dörfchen, wohin Jeanne d’Arc zu ihrem Oheim Durand Laxart ging, als sie im elterlichen Hause nicht länger wohlgelitten war; dann (zur Linken) ein mittelalterliches, halb schloßartiges Gehöft, bis endlich, bei einer Biegung des Weges, Domremy selbst mit einzelnen seiner blitzenden Dächer sichtbar wird. Nicht mit seiner Kirche. Es hat nur eine Kapelle, die, etwas tief gelegen, sich hinter Pappeln und anderem Bauwerk versteckt.
Die letzten zehn Minuten vor Einfahrt in das Dorf waren die schönsten. Es war, als ob die Reisegötter hier noch einmal den Zweck verfolgten, ein übriges für mich tun und die ganze Szene künstlerisch abrunden wollten. Ein Geistlicher in weißem Haar und breitkrämpigem Hut kam des Weges; wir grüßten einander. Ein Hirt folgte; strickend schritt er seiner Herde voraus. Durch die herbstlich klare Luft zogen Tausende von Sommerfäden, und auf meine neugierige Frage, welchen Namen diese weißen Fäden in Frankreich führten, antwortete mein Kutscher: les cheveux de la Ste. Vierge. (Die Haare der heiligen Jungfrau.) War es denkbar, unter glücklicherer Vorbedeutung in das Dorf der Jeanne d’Arc einzuziehen? Und doch täuschten alle diese Zeichen.
Um 3 Uhr etwa fuhren wir in die Hauptstraße von Domremy hinein. Es ist ein Dorf von mittlerer Größe, eher klein. Der Eindruck, trotz hellen Sonnenscheins und des weißen Anstrichs der Häuser, war ein düsterer; alles schien auf Verfall und Armut hinzudeuten. In der Mitte des Dorfes hielten wir vor einem rußigen, anscheinend herabgekommenen Gasthause, das in verwaschenen Buchstaben die Inschrift trug: Café de Jeanne d’Arc. Es war unheimlich. Ich hatte dieselbe, mich direkt ins Herz treffende Empfindung wie am Abend vorher, wo der Blaukittel mich besucht und seine Botschaft ausgerichtet hatte.
Ich eilte, mich diesem Eindruck zu entziehen; die geweihte Stätte, wo „la Pucelle“ („Die Jungfrau“) geboren wurde, schien mir der geeignetste Platz dazu. Ich brach also unverzüglich auf. Es waren nur 150 Schritt; in einem Stück Gartenland lag das ehrwürdige Gemäuer. Ich zog die Glocke an einem sauberen drahtgeflochtenen Gittertor, das den Garten von der Straße schied. Eine „Religieuse“ (Nonne) öffnete und machte die Führerin. Und siehe da, als ich erst in der Nische über der niederen Eingangstür das in Stein gemeißelte Bild der gewappneten Jungfrau, innerhalb des Hauses selbst aber den alten eichenen Wandschrank sah, der ihr jahrelang als Truhe gedient hatte, fiel alles Mißtrauen wieder von mir ab, und ich fühlte mich ganz dem Zauber dieser Stunde hingegeben. Ich machte meine Notizen, trat dann zurück in den Garten und versenkte mich noch einmal in den Anblick dieses in Geschichte und Dichtung gleich gefeierten Ortes. Konvolvulus rankte sich um die Stämme einiger Zypressen; Resedabeete füllten die Luft mit ihrem Duft, die Religieuse sprach leise freundlichen Worte; – alles war Poesie.
In unmittelbarer Nähe des Hauses „de la Pucelle“ liegt die Kapelle. Sie ist gotisch. Einige Glasfenster, namentlich eines, dessen bunte Scheiben das Wappen der Jeanne d’Arc ausweisen, deuten auf das fünfzehnte Jahrhundert zurück: das meiste aber ist modern. Ich verweilte wohl eine Viertelstunde an dieser Stelle, mir jedes Kleinste einprägend, und tat dann wieder vor das Portal der Kapelle, zu deren Linken sich eine Statue der Pucelle erhebt. Diese kniet im Gebet, preßt die linke Hand aufs Herz, während sie die rechte gen Himmel hebt; – eine wohlgemeinte, aber schwache Arbeit.
Ich klopfte eben mit meinem spanischen Rohr an der Statue umher, um mich zu vergewissern, ob es Bronze oder gebrannter Ton sei, als ich vom Café de Jeanne d’Arc her eine Gruppe von acht bis zwölf Männern auf mich zukommen sah, ziemlich eng geschlossen und untereinander flüsternd. Ich stutzte, ließ mich aber zunächst in meiner Untersuchung nicht stören und fragte, als sie heran waren, mit Unbefangenheit, aus welchem Material die Statue gemacht sei? Man antwortete ziemlich höflich: „Aus Bronze“, schnitt aber weitere kunsthistorische Fragen, zu denen ich Lust bezeugte, durch die Gegenfrage nach meinen Papieren ab. Ich überreichte ein rotes Portefeuille, in dem sich meine Legitimationspapiere befanden, selbstverständlich nur preußische. Man suchte sich darin zurechtzufinden, kam aber nicht weit und forderte mich nunmehr auf, zu besserer Feststellung sowohl meiner Person wie meiner Reiseberechtigung ihnen in das Wirtshaus zu folgen. Die ganze Szene, so peinlich sie war, hatte, der Gesamthaltung der Dorfbewohner nach, nicht gerade viel Bedrohliches gehabt und schien nach unserem Eintreten in das Wirtshaus, wo bald Wein und Reimser Biskuit herumgegeben wurden, ein immer helleres Licht gewinnen zu wollen. Ich machte alle Umstehenden, deren Zahl von Minute zu Minute wuchs, mit dem Inhalt meiner Legitimationspapiere bekannt und setzte ihnen offen den Zweck meiner Reise und dieser speziellen Exkursion nach Domremy auseinander, was alles wohl aufgenommen wurde. Aber der kleine Lichtstrahl der eben durchbrechen wollte, sollte bald wieder verschwinden. Ich war eben noch im besten Perorieren (erklären), als ein junger Bauer, der sich mit meinem Stock zu tun gemacht hatte, die Krücke aus der Stockscheide zog und mit einem „ah, un poignard“ („Sehr hier, ein Dolch“) die mir zuhörende Gesellschaft überraschte. Es durchfröstelte mich etwas, weil ich klar einsah, was jetzt notwendig kommen mußte. Ich faßte mich aber schnell, und