Ring der Narren. Chris Inken Soppa

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Ring der Narren - Chris Inken Soppa

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      Im Alter von zwölf Jahren wurde Milton Langschläfer. Von da an war er für sein Schicksal selbst verantwortlich.

      Saison Nummer Fünf

      Milton steckte in einem Faschingskostüm. Es war nicht irgend ein Kostüm, sondern ein teures Erbstück, ein handgenähtes Kleid aus den Goldenen Zwanzigern mit herabgesetzter Taille und eng anliegenden Ärmeln, das einst einer grobknochigen Frau gehört haben musste. Es passte ihm wie angegossen.

      Früher hatte er sich Jahr für Jahr kostümiert ins Getümmel der Straßenfastnacht gestürzt. Superman. Adenauer. Robinson Crusoe. Zeus. Bob Dylan. Und, mit weinrotem Samtsakko, weißen Strümpfen und flaschengrünen Kniebundhosen als König Ludwig von Bayern. Ein Riesenerfolg. Die Hexen und Närrinnen auf den Gassen waren hingerissen. Eine strenge Cleopatra begann sofort, ihre Finger mit den Strähnen seiner schwarzen Lockenperücke zu verflechten, noch ehe er ihr einen Becher Glühwein anbot. Milton hatte die Fremde sanft und entschlossen in den nächsten Hauseingang geschoben, als die Tür nach innen aufging und Milton mit Cleopatra in einen dunklen Flur stolperte. Sambaklänge dröhnten aus der benachbarten Besenwirtschaft. Milton nahm die Fremde bei der Hand und flüchtete mit ihr schmale Holzstufen hinauf in den ersten Stock, um dort die Beschaffenheit ihrer königlichen Leibwäsche zu erforschen. Cleopatra hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und er fühlte sich willkommen. Im Parterre klappte die Tür zur Besenwirtschaft auf. Das Trommeln der Sambagruppe drang lärmend bis zu ihnen hoch, ihre Körper schwangen im Rhythmus mit. Cleopatra riss König Ludwig die Perücke vom Kopf und schrie ihm etwas ins Ohr. Lange Finger zerrten an seiner Samtjacke.

      „Was war das?“, fragte Milton in die erlösende Stille hinein, nachdem die Sambagruppe das Haus trillernd und trommelnd verlassen hatte.

      „Ich wollte dir nur sagen, ich bin HIV-positiv.“

      „Äh.“ Miltons Leidenschaft zerstob mit einem Schlag in graue, herbe Realität.

      „Ich kann es selbst noch gar nicht glauben.“ Cleopatra löste ihre Finger aus seiner Samtjacke, gab ihm die Perücke wieder, zwinkerte ihm Abschied nehmend zu und spazierte gelassen die Treppe hinab.

      Miltons Besuch beim Hausarzt am darauffolgenden Aschermittwoch verlief unbefriedigend. Der Arzt wollte offenbar so schnell wie möglich zu seinem Mediziner-Fischessen. Zwischenfragen von Laien waren da nur Zeitverschwendung.

      „Falls Sie positiv sein sollten, werden wir es Ihnen in der nächsten Woche mitteilen. Sie können ja anrufen.“

      „Und Sie wissen noch gar nichts?“, fragte Milton niedergeschlagen.

      „Wir werden die Blutprobe einschicken. Ich bin doch kein Haruspex.“

      „Wie bitte?“

      „Kein Opferschauer, der aus Blut und Eingeweiden die Zukunft eines Menschen abliest. Obwohl ich mir an jedem Aschermittwoch erneut wünsche, einer zu sein.“

      „Ich habe wohl ein falsches Bild von euch Medizinern.“ Milton stellte sich vor, wie der Herr Doktor mit Skalpell und Schere einen Karpfen sezierte und sich dabei ausmalte, wieviel er im nächsten Jahr an seinen Privatpatienten verdienen würde.

      „Im Labor haben sie nur begrenzt Personal. Besonders in den ersten Tagen der Fastenzeit.“ Mit unbewegtem Gesicht erhob sich der Arzt und öffnete die Tür. „Lassen Sie sich an der Rezeption die Telefonnummer geben!“

      Milton hatte Glück. Er durfte sich durch und durch negativ fühlen. Das Damoklesschwert aber, dessen Spitze tagelang auf sein Leben gezielt hatte, verlieh ihm Misstrauen gegenüber verkleideten Menschen. Als er den Job im Feuerwehrmuseum verlor, wurde ihm klar, dass auch andere Leute stutzig wurden, wenn sich einer mit falschen Klamotten hochstapeln wollte. Kein Wunder, dass die Menschen in Sachen Alltagsgarderobe so kleinmütig waren. In nächtlichen Träumen sah Milton sich in knallenger Ledermontur und wehendem schwarzem Mantel durch die Innenstadt schlendern. Zum Glück wachte er immer auf, bevor er zusammengeschlagen wurde.

      Das teure Erbstück aus den Goldenen Zwanzigern gehörte seinem Kumpel Viktor, den er gelegentlich zum Trinken und Pfeile werfen in die Kneipe begleitete. Viktor war ein Faschingsnarr im besten Sinne. Nur wenige Wochen im Jahr durfte er seinen glänzenden Billardkugelkopf mit Perücken bedecken, ohne dass sich jemand darüber mokierte. Und das kostete er aus, schamlos und mit kindlicher Freude. Es gab kaum eine Nacht in der Fünften Jahreszeit, in der er nicht unter einem bunten Mop aus Plastikhaaren, die seinem Gesicht etwas engelhaft Weiches verliehen, im schwarzen Anzug um die Häuser zog. War Milton bei ihm, seit Cleopatra stets in Zivil, staunte er über Viktors körperliche Wandlungsfähigkeit. An allen restlichen Tagen des Jahres war Viktor ein bulliger Augenoptiker, dessen Kunden stets damit rechnen mussten, dass er handgreiflich wurde und ihnen genau die richtige Brille auf die Nase drückte. Frauen bewunderten seinen künstlerischen Weitblick und seine rüden Verkaufstechniken. Die Männer beklagten die Preise seiner Gestelle und bezahlten sie trotzdem gern. Viktor gab sich nicht mit Schmeicheleien ab. Er nannte schiefe Nasen, asymmetrische Augenbrauen, fehlende Tränenflüssigkeit, miserable Hell-Dunkel-Reaktionen und unterschiedliche Ohrhöhen beim Namen und fand im Nu die passende Lösung. Er galt als glaubwürdig, der Billardkugelkopf war Teil des Programms. Eine Echthaarperücke hätte seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt. Also blieben Viktor nur die Faschingswochen.

      Dieses Jahr hatte er Milton bedrängt, sich mal wieder auf ein Kostüm einzulassen. Das teure Kleid aus den Zwanzigern brachte er eigens für ihn mit. Es hatte Viktors Großmutter gehört, einer lustorientierten Berlinerin mit Faible für Joachim Ringelnatz.

      „Wenn man das zierlichste Näschen

       Von seiner Braut

       Durch ein Vergrößerungsgläschen

       Näher beschaut

       Dann zeigen sich haarige Berge

       Dass einem graut.“

      So deklamierte Viktor, nachdem er Milton keine Ruhe gelassen hatte, bis dieser das Kleid endlich überstreifte. Im Spiegel sah Milton eine Drag Queen mit Dreitagebart und zartem Gespitzel über der Brust, das nicht recht wusste, ob es flattern oder spannen sollte. Miltons Haare waren in diesem Winter kinnlang und hingen ihm über die linke Gesichtshälfte, was Viktor Anlass zu Sticheleien über den verzweifelten Charme alternder Boy-Band-Boys gab. Milton hob die Schultern, um zu überprüfen, ob ihm das Kleid etwas Spielraum für Bewegungen ließ, die selbst einer lustorientierten Berlinerin aus den Zwanzigern zu gewagt gewesen wären. Er reckte die Arme, spreizte die Beine, rieb sich am Türrahmen und verfiel schließlich auf eine Josephine-Baker-Parodie. Brüllend vor Lachen rammte ihm Viktor seine groben Optikerfinger in die Seite. Das Kleid hielt es aus.

      „Du brauchst noch hohe Schuhe“, riet Viktor, nachdem sich seine Stimmlautstärke wieder normalisiert hatte. „In der Altstadt gibt’s einen Secondhandladen mit Übergrößen.“

      „Und wer soll die besorgen?“ Milton stellte sich eine winzige weißgelockte Verkäuferin vor, die ihm mit ängstlichem Blick einen roten Schuhlöffel brachte, damit er seine Füße in schwarze Pumps Größe 46 zwängen konnte. Doch höchstwahrscheinlich würde sie ihm die Schuhe vorher entreißen, um mit den Absätzen stereo auf ihn einzuschlagen. Pfennigabsätze aus Metall verursachten mit Sicherheit höllische Wunden.

      „Vögel wie du kommen da in der Faschingszeit öfter vorbei.“ Viktor zog einen Elektrostatik-Staublappen aus der Gesäßtasche seiner Jeans und polierte sich den Kopf. Das angenehm Pappige eines solchen Staubwischers vertrage sich prächtig mit der unendlichen Glätte seines Kopfes,

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