Ring der Narren. Chris Inken Soppa
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Da der Kupferring als solcher tatsächlich wertlos war, musste Muhammads Mutter von einer Schadenersatzforderung absehen. Aber ihre Briefe kamen noch lange und regelmäßig, mal mit larmoyantem, mal mit mörderischem Unterton, erfüllt von jahrhundertealtem Hass auf les Allemands. In ihrem letzten Schreiben verriet sie, ihr Sohn hätte sich zu einem Gotteskrieger-Trainingscamp nach Afghanistan aufgemacht, und sie erwarte nicht, ihn lebend wiederzusehen. Danach war Ruhe. Miriam wiederum hatte ihr nicht verraten, dass aus ihrer langjährigen Einheit mit Muhammad ein napoleonisches Zwillingspaar namens Jonas und Leonie hervorgegangen war, für das sie den Kupferring im Nachhinein gerne aufbewahrt hätte.
Mittlerweile hatte Miriam ihre spirituellen und erotischen Enttäuschungen mit einer konsequent alternativen Lebensweise zu kompensieren versucht. Zunächst leitete sie einen Oster-Work-shop zum Thema „Eierfilzen“, bei dem sie Kindern beibrachte, wie man die Logos namhafter deutscher Fußballvereine per Filznadel und Märchenwolle auf kleine weiße Styropor-Eier sticht. Es folgten Rollen in diversen Laientheatern. Seitdem nannte sie sich Mime, in der irrigen Hoffnung, mit einem großen Namen leichter in die Profiliga der Schauspieler aufzusteigen. Dann kam ein Clownsseminar, bei dem sie sich mit klebriger weißer Schminke die Haut verdarb, und kleinere Jobs bei Umweltverbänden: Schilf pflanzen, Vögel zählen und im Allrad-Jeep zu verschiedenen Aktionen kutschieren, um sich dort als Mahnmal für die Öffentlichkeit anzuketten.
Das alles ließ sie unausgefüllt. Vor allem fehlte ihr Geld.
Eine Mitfilzerin aus dem Oster-Workshop brachte Mime schließlich auf die Idee, einen Klangschalen-Lehrgang zu besuchen und sich parallel zur Fingeryoga-Meisterin ausbilden zu lassen. Schon bald hatte Mime ein paar gut betuchte Schülerinnen, die zu ihr in die Wohnung kamen und ihr Unterhaltung und Einkommen sicherten. Die napoleonischen Zwillinge besuchten bereits den Kindergarten und fanden zu Hause eine patente, zufriedene Mutter vor.
Milton wartete lange auf ein Augenzwinkern, ein Kräuseln der Mundwinkel oder einen ganz bestimmten Ton in Mimes Stimme, womit sie ihm signalisierte, dass sie insgeheim dachte wie er. Als Kind hatte sie ihre Ernsthaftigkeit so brillant mit herablassender Ironie zu kombinieren gewusst, dass er immer wieder auf sie hereinfiel. Um sich besser gegen ihre Angriffe wehren zu können, begann er, sie zu beobachten. Er lernte, den Klang ihrer Stimme, ihren Augenaufschlag und das Spiel winzigster Muskeln in ihrem Gesicht zu deuten. Ihre facettenhafte Persönlichkeit machte ihm Spaß. Mit erregter Freude sah er zu, wie sie Erwachsene und andere Kinder zur Weißglut trieb, bis sie heulten, brüllten oder losprügelten. Er hingegen wähnte sich immun und erfreute sich an der Hinterhältigkeit seiner Schwester, wie man sich an einer Fernsehserie erfreut, die verschiedene Geschichten mit ganz unterschiedlichen Darstellern zum immer gleichen Ende bringt. Es machte ihm nichts aus, mal eine Episode zu verpassen. Es war auch nicht schlimm, als heimlicher Mitwisser gelegentlich für ihre Spielchen büßen zu müssen. Sie war immer schlauer und tiefgründiger als er. Also lernte er von ihr, halb widerstrebend, halb dankbar. Aber voller Anerkennung.
Und dann wurde sie erwachsen, und ihre leichtere, interessantere Seite war auf einmal nicht mehr da, als sei ein wichtiger Teil ihrer Persönlichkeit brutal amputiert worden. Das Spiel ihrer Gesichtsmuskeln vereinfachte sich, ihre Stimme nahm einen bodenständig sonoren Klang an, der Kinder und nervöse Yogaschülerinnen zu beruhigen vermochte. Ihre Beweglichkeit und Ambiguität war einer ausdruckslosen Säulenanmut gewichen, die Milton unpassend und irritierend fand. Eines Tages musste er sich eingestehen, dass ihn seine Schwester langweilte. Wie ein geliebter Song, den er sich jahrelang angehört hatte, und dem plötzlich die Bässe abhanden gekommen waren, bis nur noch ein kopflastiges Gedudel übrig blieb. Der Text handelte von Kindern, Küche, Krankheiten, Körperpflege; ein klebriger Brei aus unzähligen anderen Texten, von Zeitung, Funk und Fernsehen immer wieder neu kombiniert, bis sie nichts mehr bedeuteten. Miriam fand er darin nicht wieder, und Mime war zum Alltagsmensch geworden: statisch, erdgefesselt, mit beiden Beinen im Leben. Ihre Intelligenz schien sie aufgegeben oder für später an einem sicheren Ort versteckt zu haben.
Milton geizte nicht mit Sticheleien. Er hoffte, auf einen Nachhall ihres früheren Ichs zu stoßen. Manchmal glaubte er gar, ein Echo zu hören. Das ermutigte ihn, sie immer weiter zu provozieren, bis sie ihn und seine Besuche kaum noch ertragen konnte. Milton ist ein Sadist, sagte Mime ihren Freundinnen. Am liebsten würde er mich aufspießen wie ein Insekt und mir dabei zusehen, wie ich mich quäle. Liebenswert geht anders.
Er kam aber weiterhin regelmäßig bei ihr vorbei und Mime ließ ihn. Ab und zu schickte sie ihn mit den Zwillingen auf den Spielplatz, wo er sie auf die längsten Schaukeln setzte und ihnen Schwung gab, bis sie kreischten.
Die Schuhe waren bequemer als Milton gedacht hatte. Die schmalen Riemchen hielten erstaunlich gut und die gewichtigen Absätze erwiesen sich als breit genug, ihn über die tückischen Rillen des Kopfsteinpflasters hinwegzutragen, ohne ihm dabei das Gleichgewicht zu nehmen. Sein kinnlanges Haar hatte er sich von Viktor zu einer steifen Pagenfrisur toupieren lassen, und über dem Erbkleid der einstigen Ringelnatz-Verehrerin trug er eine Kunstnerzjacke, die ihr ebenfalls gehört hatte. Das Ensemble passte perfekt.
In Miltons Handtasche befand sich eine versilberte Zigarettenspitze und ein Fläschchen Absinth, aus dem sich auch Viktor hin und wieder bediente. Aus Stilgründen hatte Viktor ausnahmsweise auf seine Perücke verzichtet. Er kombinierte seinen glänzenden Kugelkopf mit einem noch glänzenderen, sinister aussehenden schwarzen Anzug, der an gewissen Stellen unübersehbare Ausbuchtungen aufwies. Eine schwere vergoldete Halskette machte seine Bodyguard-Verkleidung perfekt. Viktors Bulligkeit ließ die Leute automatisch zur Seite ausweichen, selbst wenn sie im Hexenkostüm und betrunken waren. Miltons Schritte wurden durch das enge Kleid begrenzt, er trippelte hinter Viktor her und musste über sich selbst lachen. In Sachen Frau-Sein versprach ihm diese Rosenmontagsnacht Erlebnisse, die seine Schwester nur aus Büchern und Filmen kannte. Die Erfahrung, in einer Nylonstrumpfhose kalte Beine zu kriegen, gehörte sicherlich dazu.
Die Blaskapellen furzten donnernde Märsche durch die eisige Winterluft. Viktor hatte an einem Glühweinstand angehalten und reichte Milton einen Pappbecher, dessen Wärme ihm angenehm durch die Samthandschuhe kroch.
„Hey, Josephine.“ Viktor stieß seinen Becher gegen den von Milton. „Manche mögen’s heiß an solchen Tagen.“
Tatsächlich. Miltons vorübergehende Ähnlichkeit mit Tony Curtis in seiner besten Rolle war nicht zu leugnen. Bereits zu Hause vor dem Spiegel war ihm die erstaunliche Melancholie in seinen Augen aufgefallen, als er sich von Viktor mit Kamm und Bürste an den Haaren ziehen ließ. Nun nahm er die Wärme des Glühweins dankbar hin, wartete ab, bis ihm das Gewürz Nase und Kehle zu reizen begann, und hustete prompt. Eine Frau im grünen Seegeist-Kostüm, die einer Riesenbürste in der Autowaschanlage ähnelte, rückte von ihm ab. Sicher war ihre Aufmachung besser für die Straßenfastnacht geeignet als seine. Schweißperlen standen auf ihrer Oberlippe. Grimmig sah sie aus, kein Einzelfall in den auf Fröhlichkeit programmierten Menschenmassen. Zwischen den lustig Verkleideten zeigten sich immer wieder düstere Gesichter, enttäuschte, gelangweilte, durch Alkohol erzürnte. Sie guckten unter Perücken und über riesigen Krägen hervor, hinter roten Nasen und dicken Brillen mit aufgemalten Augen. Milton hatte Clowns