Ring der Narren. Chris Inken Soppa

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Ring der Narren - Chris Inken Soppa

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Kellnerin im Varietékostüm, die sich einen großen freundlichen Mund über ihren grimmigen eigenen gepinselt hatte, und bestellte zwei weitere Rote.

      „Warum möchten Sie denn nicht gefunden werden?“, wollte er wissen.

      „Diese Frage ist mir zu persönlich. Sie hören sich an wie mein Heilpraktiker.“

      „Vielleicht bin ich ja einer“, schlug Milton vor.

      „Vielleicht. Obwohl, als Sie da neulich in meinen Laden spaziert kamen, da dachte ich eher, der Geheimdienst hätte Sie geschickt.“

      „Oh!“ Milton war ehrlich überrascht. „Ich bin eben unauffällig. Ein richtiger PhysioGnom. Aber Sie … Sie haben also etwas zu verbergen. Würde es sich für mich lohnen, Sie zu verraten?“

      „Das würden Sie tun?“ Die Elbin betrachtete ihn interessiert.

      „Wie hoch ist denn das Kopfgeld, das man auf Sie ausgesetzt hat?“

      „Phantastisch hoch“, erwiderte die Elbin. „Allein mit den Zinsen kann man sich ein schönes Leben machen.“

      Als Milton am frühen Morgen nach Hause kam, saß eine Frau vor seiner Wohnungstür. Sie war sehr hager, ihr Faschingskostüm erinnerte an Sylphen oder Trollmädchen. Roter Filzrock bis zu den Schuhen, ein lila Hemd, dessen Trompetenärmel ihr über die Hände fielen. Glatte weißkrautfarbene Haare. Ein grünes Halstuch mit schwarzen Sonnensymbolen. Die Farbe ihrer Augen rundete ihren bunten Aufzug perfekt ab.

      Ihre Augen waren blau. Geschlagen.

      Milton, der gerade seinen Wohnungsschlüssel aus der Handtasche ziehen wollte, sah betreten zu Boden. Misshandelte Frauen kannte er aus der Zeitung und aus den Abendserien im Fernsehen. Er besaß eine kultivierte und wohlausgewogene Meinung zu Frauenhäusern, prügelnden Ehemännern und archaisch-patriarchalischen Ehrenmördern mit deutschem Pass. Doch offenbar hatte Milton bisher ein sicheres Nischenleben geführt, denn aus der Nähe hatte er eine verprügelte Frau noch nie gesehen. In seinem Drag-Queen-Outfit kam er sich auf einmal lächerlich vor.

      „Alles in Ordnung?“

      Mit Daumen und Zeigefingern drückte sie sich die verquollenen Augenlider auseinander, um ihn anzusehen. Sie wirkte verwirrt. Ihr Mund war ein kleiner, trauriger, dunkelroter Fisch, der in der großen Weite ihres weißen Gesichts nicht mehr nach Hause fand.

      „Ich will zu Milton Meier“, flüsterte sie. „Er ist …“ Sie stockte.

      „Sind Sie sicher? Milton Meier?“ Die Eindeutigkeit seines Namens überraschte ihn selbst.

      „Ich weiß, es ist unhöflich. Zu dieser Zeit …“

      „Fast fünf Uhr morgens“, bestätigte Milton. „Doch das hat in den tollen Tagen nichts zu sagen.“ Er tastete erneut nach seinem Schlüssel und bekam ihn endlich zu fassen. „Aber kommen Sie doch herein.“

      „Und Sie sind …?“ Die Frau blickte auf seine geöffnete Wohnungstür und hielt sich noch immer mit Daumen und Zeigefingern die Lider auseinander.

      „Milton Meier, sehr erfreut.“ Milton streckte ihr seine rechte Hand mitsamt der baumelnden Tasche entgegen. „Ich habe mich heute als Ringelnatz-Anbeterin verkleidet. Fürs wahre Leben finde ich Ringelnatz allerdings zu derb. Ihr Kostüm ist aber auch nicht schlecht. Was soll es darstellen?“

      „Derb …“, wiederholte die Frau und stolperte ungelenk gegen den Türrahmen. Sie war ganz offensichtlich am Ende ihrer Kräfte. Sie war nicht einmal mehr in der Lage, einen vollständigen Satz über die Lippen zu bringen.

      Eine halbe Stunde später lag sie fest schlafend in Miltons Bett, während er unerwartet nüchtern und ohne Hintergedanken auf einem seiner Sperrmüll-Sessel saß und sich fragte, was sie bei ihm wollte. Als Schutzschild vor einem Halsabschneider-Ehemann oder einem stechwütigen Vater würde er ihr kaum dienen können, dafür war er zu feige und schwerfällig. Aber sie kannte seinen Namen. Milton Meier war offenbar weniger einzigartig als angenommen. Sonst müsste er sich Sorgen machen. Milton erhob sich leise und holte seinen Laptop, um nachzusehen, was das Internet über ihn wusste. In den Weiten des Netzes gab es zahllose Miltons, doch keine der Suchmaschinen landete einen Treffer. Vielleicht war er tatsächlich nicht auffällig genug. Leute, die sich mit aller Macht daneben benahmen, sich in U-Bahnen entblößten, den Kot ihrer Hunde nicht beseitigten oder sich in Gegenwart ihrer Neugeborenen eine Zigarette anzündeten, solche Leute konnten für den Rest ihres Lebens am Internet-Pranger landen, wenn sie Pech hatten. Dann blieb ihnen nur, vor einen Zug zu springen oder sich von ein paar netzfernen Mönchen in einem abgeschiedenen Kloster aufs Nirwana vorbereiten zu lassen. Die skrupellosesten unter ihnen besorgten sich ein Maschinengewehr und mähten noch eine Schulklasse nieder, ehe sie die Welt verließen.

      Kurz kam Milton der Gedanke, sein Wohnhaus via GoogleEarth anzuschauen. Doch dann schaltete er den Rechner wieder ab. Vorgärten von Mietskasernen wirken deprimierend. Irgendwo steht immer ein Mülleimer herum, und die großzügig bereitgestellten Plastikrutschen, mit denen träge Stadtkinder zur körperlichen Ertüchtigung animiert werden sollen, sehen sogar aus der Satellitenperspektive schäbig aus.

      Die Frau schnarchte leise. Den hervortretenden Adern ihrer herunterhängenden rechten Hand nach zu urteilen, musste sie um die Vierzig sein, wie er selbst. Sie hatte ihm nicht einmal gesagt, wie sie hieß. Ihr Gesicht verschwand fast zwischen seinen Biber-Bett-Kissen, ein protestantisches Sopranistinnen-Gesicht, dessen Trägerin geschieden ist, Kirchentage besucht, für den Weihnachtsbasar jede Menge Spekulatius bäckt, mit den Kindern vorm Zubettgehen Gebete rezitiert und vom Schutzengel erzählt. Sollte er jetzt zu ihr in sein Bett steigen, sie von hinten umarmen, bis sie sich umdrehte und ihm ihren kühlen evangelischen Atem ins Gesicht blies? In den tollen Tagen passierten die tollsten Dinge. Ihre blauen Augen allerdings waren keine Clownsschminke.

      Draußen läutete eine Kirchturmglocke. Bald würden die ersten Streifen der Dämmerung über die Stadt kriechen und den letzten Feiernden neues Licht geben. Milton war aus seinem Kleid gestiegen und hatte sich in einem bequemen dunklen Jogginganzug vergraben. Seine Müdigkeit war weg. Er könnte seine alte Kinder-Plastikknarre aus dem Keller holen und damit eine Bank überfallen. Es war sechs Uhr, Zeit für den Nachtwächter-Schichtwechsel und die ersten Geld-Transporte. Mit seiner alten Skimütze und den Wildleder-Laufschuhen würde er einen glaubwürdigen Bankräuber abgeben. Kurz vor Schichtende würde er die Überwachungskamera mit einer selbst gekauten Packung Orbit White überkleben, dem gähnenden Nachtwächter seine Kinderknarre an den Hinterkopf halten und ihn dazu bringen, ihm eine Plastiktüte voller knitterfreier Banknoten zu überreichen. Damit würde er sich aus dem Staub machen, bevor der Alarm losging. Im Stadtpark würde er sich der Knarre entledigen, die Plastiktüte im hinter einem Baum versteckten Minirucksack verstauen und mit dem Geld auf dem Rücken als harmloser Jogger nach Hause rennen, während die Polizei Straßensperren errichtete und jeden verdächtigen PKW nach großen Scheinen durchfilzte.

      Die Frau hieß Silke. Diplompsychologin Silke Weidemann, eine Freundin seiner Schwester Mime. Kein Wunder, dass Milton zunächst nicht wusste, wer sie war. Sie hatte sich verändert. Vor etwa einem Jahr war sie noch eine feiste Frischvermählte gewesen. Inzwischen trug sie deutlich weniger Gewicht mit sich herum und ihr Ehering schien abgefallen zu sein. Dafür hatte sie sich ein neues Problem eingefangen.

      „Ich hatte eine Auseinandersetzung mit einem Patienten.“ Silke schob sich ein Haarband zwischen die Zähne. „Er ist das große V für Versagen, das an der Decke klebt und zu mir herabgrüßt, sobald ich morgens die Augen aufmache. Ich sollte ihn an einen Psychiater überweisen, damit er Psychopharmaka bekommt. Doch er will das nicht, er sagt, er kriegt Pestbeulen davon. Wenn das so weiter geht, kriege

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