Berufsbezogenes Marketing. Gerhard Seidel
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Sichtweisen
Dazu passt ein weiteres Thema, das ich unbedingt ansprechen möchte: Es sind unsere Sichtweisen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen. Als Trainer (oder Lehrer) bringen wir anderen Menschen – was auch immer – irgendetwas bei. Das impliziert, dass wir davon überzeugt sind, es doch meistens besser zu wissen als unsere „Schüler“. In meinem beruflichen Leben (ich gehe später kurz darauf ein) hatte ich oft das Problem mit meinen Mitarbeitern (in der Regel nannten sie sich Dozenten), sie von neuen, anderen, besseren Strategien, Methoden oder sonstigen, für ihre Arbeit vielleicht wichtigen Erkenntnissen zu überzeugen. Nicht dass sie alle Besserwisser gewesen wären, ich sage es mal so, ihre Beharrlichkeit war oft sehr ausgeprägt.
Wenn ich Vorträge oder Workshops für Bewerbertraining halte, dann kann ich bei den Teilnehmern oft beobachten, dass einige von ihnen bei bestimmten Passagen den Kopf schütteln und mir damit signalisieren: Das sehe ich aber ganz anders, mit dieser Ausführung bin ich nicht einverstanden. Doch es gibt auch die andere Gruppe, die zustimmend nickt und damit deutlich macht: Das sehe ich auch so. Das, lieber Seidel, ist in Ordnung (das kennen Sie bestimmt auch von Ihren Seminarteilnehmern).
Unter Lernen versteht man auch, das vorhandene Wissen in Frage zu stellen. An einem guten Lernprozess nimmt man dann teil, wenn möglichst viel vom eigenen Wissen „in Frage gestellt wird“.
Anders formuliert: Wenn die Teilnehmer mit den Inhalten meines Vortrages (oder Sie als Leser dieses Buches) stets einverstanden wären, meine Ausführungen immer mit Ihren Ansichten übereinstimmten, dann wäre die Teilnahme an der Veranstaltung eigentlich sinnlos, dann brauchten Sie dieses Buch auch nicht zu lesen. Denn der Zugewinn an neuen Erkenntnissen und Wissen wäre gleich null.
Dazu eine kleine Übung, damit Sie wissen, was ich meine. Übrigens: Diese und die nachfolgende Übung habe ich in meinen Vorträgen immer möglichst früh „eingebaut“, um die Zuhörer einzustimmen, dass sie offen sind für neue und unter Umständen kontroverse Wahrheiten.
Wie viele Quadrate sind das? Manche erkennen 16, andere 17, weil sie das große Quadrat, das die äußere Begrenzung bildet, mitzählen. Einige entdecken dann die Viererkombination und kommen auf 26; man kann sogar, wenn man die kleinen Quadrate zu neunt zusammenfasst, bis zu 30 erkennen. Die Frage ist: Wer hat denn nun recht? Wie viele Quadrate sind es tatsächlich?
Alle haben recht! Es kommt darauf an, wie man es sieht. Jeder hat seine Wahrheit. Es gibt auf dieser Welt unendlich viele Wahrheiten, und die sind genauso richtig wie Ihre oder meine Wahrheit. Es kommt darauf an, was man erkennt, von welchem Standpunkt man die Dinge betrachtet und wie man das Wahrgenommene interpretiert.
Ähnlich ist es beim Bau eines Hauses, auch hier treffen die unterschiedlichsten Interessen, Sichtweisen und Entscheidungskriterien aufeinander. Während den Bauherrn mehr interessiert, wo sich die Küche oder das Schlafzimmer befindet, hat der Statiker ganz andere Sorgen. Die Bank interessiert sich nur für den Wiederverkaufswert, um so die Beleihungsgrenze zu ermitteln, die Behörden prüfen, ob das Dach auch die vorgeschriebene Neigung hat, und für den Bauunternehmer summieren sich all diese Überlegungen letztlich in Stunden, Steinen, Zement, Eisen usw. Dem Ganzen setzt dann der Architekt die Krone auf, der sich mit dem Objekt nicht nur ein fremdfinanziertes Denkmal schaffen will, sondern auch potenzielle Kunden davon überzeugen möchte: Bei mir sind Sie richtig! (So zumindest meine Erfahrungen und Wahrheiten, was das Hausbauen angeht.)
Aber erst alle Sichtweisen ermöglichen ein fertiges Objekt „Haus“. Deshalb gibt es in der Regel keine falschen Ansichten, höchstens andere.
Welche Zahl ist das, die die beiden Herren sehen? – Es kommt auf den Standpunkt an. Für den einen ist es ganz klar eine „6“, während der andere eine „9“ erkennt.
Dies zeigt eine Ursache auf, die dazu führt, dass es viele Kommunikationsprobleme gibt: Man versucht zu lange, dem anderen klarzumachen, dass dessen Ansichten falsch sind, anstatt sich zu fragen, wie der Kollege oder der Chef zu seiner Interpretation kommt.
Praxisbeispiel Dresden
Hier ein Praxisbeispiel dafür, welche Konsequenzen verschiedene Sichtweisen haben können. Es handelt sich um einen sehr lehrreichen Vorfall aus unserer Branche, ein Bewerbertraining, welches die Leitung eines Kombinats gekündigten Mitarbeitern zu sehr günstigen Konditionen (14 Tage für 100 DM) angeboten hatte.
Wir hatten kurz nach der Wende in Dresden ein Gruppen-Outplacement abzuwickeln. Von 280 eingeladenen Arbeitnehmern, die von der Kündigung bedroht waren, erschienen 180 zur Informationsveranstaltung. Um 17.00 Uhr (normalerweise war um 16.00 Uhr Feierabend) waren noch 30 Teilnehmer da. Mit 25 führten wir dann letztlich das Bewerbertraining usw. durch und brachten 22 von ihnen in Arbeit.
Sie denken vielleicht (Ihre Sichtweise und Interpretation): Donnerwetter, das waren ja ziemlich viele, bei dieser schwierigen Situation des Arbeitsmarktes. Na ja, vielleicht denken Sie aber auch (andere Sichtweise und Interpretation): Wenn über 90 Prozent freiwillig aus dem Rennen ausscheiden, dann dürfte es nicht mehr allzu schwierig sein, den Rest unterzubringen. Das stimmt – so oder so. Zumal ein Teilnehmer eines Bewerbertrainings damals mit Sicherheit bessere Chancen hatte als die ungeübten, von Kündigung bedrohten Mitarbeiter.
Ich will aber noch auf etwas anderes hinaus. Warum haben die restlichen 250 Arbeitnehmer so entschieden? Wenn man denen vorhalten würde, sie hätten doch ihre Arbeitslosigkeit selbst entschieden, dann würden sie diesen Vorwurf ganz empört von sich weisen. Ihre Sichtweise und Wahrheit hat sie anders entscheiden lassen. Viele wollten lieber die volle Abfindung haben und nichts in ein Bewerbertraining investieren.
Andere waren nicht davon überzeugt, dass man ihnen helfen könnte. Die meisten aber teilten die Sichtweise, in der augenblicklichen wirtschaftlichen Situation (1990/91) bei so vielen Arbeitslosen sowieso keine Chance zu haben.
Der Verlierer sagt: „Bei 1.000 Arbeitslosen und nur 100 offenen Stellen habe ich kaum eine Chance.“
Der Gewinner meint: „Was? 100 offene Stellen – und ich brauche nur eine? Also, das dürfte ja nicht so schwierig sein. Da werde ich mich mal drum kümmern.“
Damit kein Missverständnis entsteht: Die Schwierigkeiten des Arbeitsmarktes sollen keinesfalls bagatellisiert werden, es geht nur darum, einmal eine andere Sichtweise der Dinge darzustellen – eine Sichtweise, die den einzelnen Betroffenen Hoffnung macht.
Die Welt ist, wie ich sie sehe, und ich behalte immer recht. Wenn ich denke, dass es keinen Sinn hat, und mich entsprechend verhalte, dann wird das stimmen – das Gegenteil aber auch.
Wir haben immer Erfolg!
Wir haben immer 100 Prozent Erfolg. Als ich diesen Satz das erste Mal hörte, dachte ich: Ich bin doch nicht allein dafür verantwortlich, was passiert. Und doch lernte ich im Laufe