Die Bestie vom Schlesischen Bahnhof. Horst Bosetzky

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Die Bestie vom Schlesischen Bahnhof - Horst Bosetzky

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      Sie gingen hinein, doch so verzweifelt sie auch suchten, sie konnten den Produzenten nirgends finden.

      »Das ist ja vielleicht ’ne Enttäuschung«, sagte Valeska. Grete Tschau hatte Tränen in den Augen. »Was nun?«

      »Essen wir erst mal was.«

      Neben dem Eingang zum Bahnhof fanden sie einen Wurstverkäufer. Karl Großmann stand auf einem Pappschild. Valeska stieß Grete an. »Mann, ist der hässlich!«

      Grete sagte das, was ihre Mutter immer gesagt hatte: »Aber dafür hat er bestimmt einen guten Charakter.«

      »Mir reicht schon, wenn seine Langen Wiener gut sind.« Valeska orderte zwei Paar Würstchen mit Weißbrot und Senf und nutzte die Gelegenheit, nach Collini und seinen Filmleuten zu fragen.

      »Da kann ick nicht mit dienen, meine Damen«, sagte der Wurstmaxe, während er mit einer hölzernen Zange die Würstchen aus seinem dampfenden Kessel fischte. »Det hätte mir garantiert müssen uffallen, wenn er hier wäre jewesen.«

      »Schade«, sagte Valeska. »Meine Freundin hier hätte gerne ’ne kleine Rolle gehabt.«

      »Die kann sogar ’ne jroße Rolle ham.«

      »Wie? Wo?«

      »Na, bei mir. Ick suche jerade ’ne neue Wirtschafterin, die mir meinen Haushalt führen tut. Die alte ist weg, zurück zu Hause bei ihr. Leichte Arbeit, juter Lohn.« Er zog seine Brieftasche unter der weißen Schürze hervor und ließ ein Bündel gutsortierter Geldscheine sehen.

      Richard Jerxheimer saß in seinem Laden in der Kreuzberger Adalbertstraße, wartete auf Kundschaft und kam sich albern vor. Wer kaufte sich in diesen lausigen Zeiten schon was Neues zum Anziehen! Hoffen und Harren macht manchen zum Narren. Recht hatten die Leute. Nu, hatte er Zeit zu lesen. Im Regal stapelten sich die Ausgaben des Berliner Tageblattes. Am 13. März war es losgegangen. »Natürlich am 13.«, murmelte Jerxheimer. Aber schon am Tag davor, in der Ausgabe vom Freitag, dem 12. März 1920, hatte es entsprechende Überschriften gegeben: Vereitelung eines reaktionären Putschversuchs. Alarmbereitschaft der Berliner Garnison. Mehrere Beschuldigte in Schutzhaft genommen. Jerxheimer las die amtliche Bekanntmachung Satz für Satz:

       Von zuständiger Stelle wird mitgeteilt: In Berlin hat seit einiger Zeit das Treiben einer rechtsradikalen Clique eingesetzt, deren Bestrebungen auf gesetz- und verfassungswidrigen Umsturz hinauslaufen, und die versucht hat, auch militärische Stellen für ihre Pläne zu gewinnen. Es kann festgestellt werden, dass die in Opposition gegen die Regierung stehenden Rechtsparteien der Nationalversammlung sowie der preußischen Landesversammlung dieser Sache fern stehen. Selbst weite Kreise altkonservativer Richtung lehnen die Desperadopolitik dieser rechtsspartakistischen Clique restlos ab.

      Das aber konnte die Putschbewegung nicht stoppen, und so lautete die Schlagzeile im Berliner Tageblatt am nächsten Tage denn auch: Bedrohung Berlins durch einen Militärputsch. Etwa 8000 Mann gegenrevolutionärer Truppen, die sich in Döberitz um die Brigaden von Lüttwitz und von Löwenfeld gruppiert hatten, marschierten nach Berlin und versuchten, Dr. Wolfgang Kapp, den ostpreußischen Generallandschaftsdirektor, an die Macht zu bringen. Die Tage der Säbelherrschaft, wie sie das Berliner Tageblatt nennen sollte, hatten begonnen. Das Erste, was der Reichskanzler Dr. Kapp dann anordnete, war die militärische Besetzung der Berliner Zeitungsredaktionen, und auch das Berliner Tageblatt musste seinen Betrieb einstellen. Dann hatte es den Generalstreik und die vielen Straßenkämpfe gegeben. Ein Nachbar, der Polizeibeamter war, hatte ihm erzählt, dass fast 150 Tote registriert worden waren.

      Heute nun, am Mittwoch, dem 24. März 1920, bot Berlin ein ganz anderes Bild als an den Vortagen. Das geschäftliche Leben hatte fast in vollem Umfang wieder eingesetzt, und Verkehr wie Wasser-, Gas- und Elektrizitätsversorgung kamen langsam wieder in Gang. Am glücklichsten war Jerxheimer aber, dass er endlich wieder sein geliebtes Berliner Tageblatt in den Händen halten konnte. Was hatte man seit einer Woche gehabt, wenn man wissen wollte, was in Berlin geschah? Nur Flugblätter und die Gerüchteküche. Geradezu begierig las er die Meldungen. Man jubelte über den Siegestag des Volkes, und es hieß unter anderem:

       Die Truppen, die sich in den Dienst der reaktionären Verschwörung gestellt, an der Überrumpelung Berlins teilgenommen hatten, zogen ab. Eine Gruppe ehrgeiziger, auf Volk, Recht und Freiheit dreist herabnäselnder Gewaltmenschen hat durch einen Handstreich die Macht an sich zu reißen versucht.

      Der politische Generalstreik war für beendet erklärt worden. Jerxheimer ließ die Zeitung wieder sinken. Da waren sie ja noch einmal glimpflich davongekommen. Abgesehen vom Verdienstausfall und der Tatsache, dass die Putschmänner angeordnet hatten, das Mehl, das die alte Regierung für die Juden zu Ostern reserviert hatte, zu beschlagnahmen und an die Arbeiter zu verteilen.

      »Das hätte ja was gegeben, wenn die ans Ruder gekommen wären«, sagte er mit einem Seufzer zu Leah, seiner schönsten und einzigen Schaufensterpuppe. Seit dem Tode seiner Frau war sie dazu bestimmt, sich anzuhören, was ihm durch den Kopf ging. »Müssen wir den Kommunisten und den Rotgardisten Dank sagen, dass sie gekämpft haben gegen die Reaktionäre, schön aber auch, dass se nich ganz nach oben gekommen sind. Obwohl, is se ja feige gewesen, unsere Regierung.« Reichspräsident Ebert und mehrere Mitglieder der Regierung waren nach Dresden und weiter nach Stuttgart geflohen. »Und was mir noch so auffällt, Leah, das ist, dass se so viele Offiziere und Soldaten ins Wasser geschmissen haben. Das scheint so ne richtje Mode gewesen zu sein.« Und er las Leah beim Überfliegen des Berliner Tageblattes die entsprechenden Passagen vor:

       In den Mittagsstunden wird der Leutnant Barth, der zur Besatzung der Reichsdruckerei gehörte, überfallen und von der Ritterbrücke ins Wasser geworfen … Als darauf eine Patrouille der Reichswehr erschien, umringte sie die Menge und warf mehrere Soldaten ins Wasser … Von der Adalbertbrücke warf die Menge einen Offizier ins Wasser; der Offizier ertrank … Aus dem Landwehrkanal wurde die schwer verstümmelte Leiche eines Reichswehroffiziers gelandet … Am Kottbusser Tor wurden ein Offizier und ein Soldat ins Wasser geworfen …

      Darüber philosophierte er noch eine Weile – was es bedeutete, dass die Menschen ihre Opfer ins Wasser warfen. Sie taten es, um ihnen die letzte Ehre zu nehmen. Katzen ertränkte man. Und nichts war schlimmer, als wenn ein Mensch als Wasserleiche endete. So aufgedunsen wie ein Tierkadaver. Wenn die Verwesung langsam einsetzte. Jerxheimer schüttelte sich.

      Der Vormittag verging quälend langsam, und kein Kunde ließ sich blicken. Die Leute hatten heute anderes im Sinn, als sich neue Sachen zu kaufen. So beschloss er, sein Geschäft schon um 16 Uhr zu schließen und die gewonnene Zeit zu nutzen, ein paar Gänge zu erledigen. Es gab Leute, die vergaßen, ihre Kledasche abzuholen, wenn sie nach dem Kauf noch zu ändern war. Meistens waren die Hosen unten zu lang und oben zu weit. Bei einem gewissen Gustav Witzke aus der Langen Straße war es genau umgekehrt gewesen. Aber nicht nur deswegen war ihm der Mann in Erinnerung geblieben, sondern auch wegen seines Auftretens. Er hatte ihn ganz genau taxiert: Das war einer, der mit allen Wassern gewaschen war und bald nach oben kommen würde. Den hatte er sich als Kunden warm zu halten, und sicherlich würde es ihm Witzke dankbar anrechnen, wenn er ihm den geänderten Anzug persönlich nach Hause brachte.

      Also packte er das gute Stück in eine Tüte und machte sich auf den Weg zum Schlesischen Bahnhof. Weit war es nicht. Er brauchte nur die Adalbertstraße hinaufzugehen, kurz rechts in die Köpenicker Straße abzubiegen, um dann links zur Schillingbrücke zu gelangen. Hinter der Spree begann die Andreasstraße, die dann gleich nach Unterquerung der Stadtbahn die Lange Straße kreuzte. Er wäre zwar

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