Die Bestie vom Schlesischen Bahnhof. Horst Bosetzky

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Die Bestie vom Schlesischen Bahnhof - Horst Bosetzky

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Straßen waren frei von sämtlichen Militärs, doch überall standen die Leute zusammen und diskutierten leicht hysterisch. Reichswehrminister Noske sollte zurückgetreten sein, und auf Anordnung des Generals von Seeckt seien Admiral von Trotha und General von Lüttwitz festgenommen worden. Man erwäge die Bildung einer reinen Arbeiterregierung, unter Berücksichtigung der Gewerkschaften. Das fanden die einen gut, die anderen aber regten sich fürchterlich darüber auf.

      »Das ist doch nur eine Minderheit, und deren Versuch, die Regierung an sich zu reißen, ist doch gerade am Widerstand des Volkes gescheitert.« Ein anderer schrie, dass man die radikale Gefahr ebenso abwehren müsse wie die reaktionäre. Gott, der Gerechte, dachte Jerxheimer, die Berliner sind so abgehärtet, dass sie bei jedem Straßengefecht die Ruhe bewahren, aber am Durchdrehen sind, wenn statt der Kugeln Gerüchte durch die Lüfte schwirren.

      Mit diesen Gedanken kam er in die Lange Straße und suchte nach dem Haus mit der Nummer 88. Besonders anheimelnd war die Gegend nicht, und er beeilte sich, in den Hausflur zu treten. Der Stille Portier verriet ihm, dass die Witzkes im vierten Stock des Seitenflügels wohnten. Auch das noch. Jerxheimer hasste das Treppensteigen wegen seines beginnenden Asthmas und verfluchte seinen Einfall, Witzke den Anzug nach Hause zu bringen. Außerdem gab es über ihm erheblichen Lärm. Hoffentlich geriet er in keine Prügelei hinein. Als er näher kam, konnte er jedes Wort verstehen, das oben gesprochen wurde. Offenbar kam die Frau, die da redete, von der Sozialkommission.

      »Ich sage Ihnen, Herr Wachtmeister, so kann das nicht weitergehen. Dieser Großmann ist ein Unhold. Die tollsten Dinge passieren hier in seiner Kochstube. Jede Menge Frauenzimmer von der Straße bringt er her. Und zumeist gibt es Lärm bei diesen Besuchen. Man hört Schreien und Stöhnen, auch lautes Weinen in der Wohnung. Eben jetzt hat dieser Mensch ein ganz junges Mädchen bei sich, das wimmert und schluchzt.«

      Richard Jerxheimer war von Hause aus zu neugierig, um sich das entgehen zu lassen. Man musste immer etwas Spannendes haben, was man seinen Kunden erzählen konnte. So näherte er sich auf leisen Sohlen dem dritten Stock, wo die Frau vom Magistrat und der Polizeibeamte bei offener Wohnungstür verhandelten. Auf dem Türschild, das aus Messing gefertigt war, stand der Name M. ITZIG, und darunter auf einem angehefteten Zettel: Karl Großmann. Das musste also eine Art Untermieter sein, wahrscheinlich der, in dessen Kochstube groß verhandelt wurde.

      Jerxheimer schaffte es, dort hineinzusehen, ohne dass sie ihn bemerkten. Im Bett lag ein halbes Kind, eine kleine, gänzlich verlumpte Herumtreiberin von vielleicht 15 Jahren. Hinten an der Kochmaschine lehnte ein auffallend hässlicher Mann von vielleicht 60 Jahren.

      Der Beamte fragte das Mädchen, was ihm fehle. »Hat dir der Herr Großmann etwas zuleide getan?«

      »Er hat mir zwischen die Beine gefasst und wollte mir dann …«

      »Da sehen Sie es!«, rief die Frau von der Sozialkommission.

      »Der Mann gehört hinter Gitter, aber sofort.«

      Karl Großmann fuhr auf. »Is det nun die Dankbarkeit, die ein Mensch kann erwarten, wenn er anderen helfen tut, wenn se in der Gosse liegen! Uff der Straße hab’ ick die Suse jefunden, und halb verhungert is se jewesen. Da bin ick jekommen und hab’ se satt gemacht, det Meechen. Keina hat sich jekümmert um sie. Nie hab’ ick dran jedacht, ihr Böset zu tun, aba jewaschen hat sie werden jemusst, so wie sie bei mir oben jekommen is. Wo se hat so ville Angst vor’t Wasser, da hab’ ick se selba waschen jemusst. Eina muss det ja ma tun. Nicht Sie vom Amt – wo sind Se denn jewesen die ganze Zeit üba? Und wat hat se uff’m Leib jehabt? Lumpen hat se uff’m Leib jehabt. Da liegen se noch. Möchten Se vielleicht in solche Lumpen rumlaufen? Welcha Mensch möchte det schon. Kleida machen Leute, wissen Se doch, Se sind doch beidet jebildete Menschen. Ick kenne doch die Menschen, kommen doch alle bei mir und koofen wat. Der Direktor will ’ne Wurst, der Bettler will ’ne Wurst. Der eene hat ’n jroßes Portemonnaie, der andre holt die Jroschen aus’m Hut, aba Menschen sind se alle. Und alle Menschen ham Hunger, auch die Suse hier. Und alle Menschen müssen Kleidung ham, sonst erfrieren se. Jetzt in März is et ja noch bitterkalt draußen. Da hab’ ick die Kleider von meine verstorbene Frau aus’m Schrank jeholt und se jeschenkt der Suse hier. Und wegen die Sache werd ich nun behandelt wie ’n Verbrecher! Da möchte man ja vor Wut die Wände hochgehen. Aber so isset nu mal: Undank ist der Welt Lohn.«

      Die Frau von der Sozialkommission trat jetzt an das Bett und lächelte der 15-Jährigen aufmunternd zu. »So, du stehst jetzt mal auf …«

      Jetzt sah man, dass das Mädchen Kleider trug, die einer großen und ziemlich fülligen Frau gehört haben mussten. Sie schlotterten nur so um den elenden Kinderkörper und fielen weit über die Füße auf den rotbraun gestrichenen Boden. Suse starrte auf ihre hervorlugenden Zehenspitzen. »Darf ich die Sachen trotzdem behalten?«

      »Ja, und du kommst jetzt mit zur Jugendfürsorge, wo man sich um dich kümmern wird.« Dann wandte sie sich an den Polizisten. »Und Sie nehmen bitte den Großmann mit.«

      »Warum denn das?«

      »Weil er gar nicht verheiratet war. Die Kleider, die da in der Ecke liegen, müssen also auf andere Art und Weise hergekommen sein. Wie, das überlasse ich Ihrer beruflichen Phantasie.« Der Polizist machte eine abwehrende Geste. »Ich kann doch nicht so einfach einen unbescholtenen Bürger …«

      Weiter konnte Richard Jerxheimer die Szene leider nicht verfolgen, denn in diesem Augenblick kam Gustav Witzke die Treppe herunter, und nun hatten die geschäftlichen Dinge absolut Vorrang. Der dicke Witzke freute sich, dass er seinen geänderten Anzug gratis ins Haus geliefert bekam, und versprach, in seinem großen Bekanntenkreis für den Händler zu werben. Zufrieden lief Jerxheimer wieder nach Hause.

      »Hallo, Papa, da bist du ja endlich!«, rief Sarah. Überraschend früh war seine Tochter heute nach Hause gekommen. Im Hotel Excelsior hatte es nicht viel zu tun gegeben, und da hatte man sie ein paar Stunden früher nach Hause geschickt. Sie setzte das Teewasser auf, und bald saßen sie plaudernd in der guten Stube. Zuerst ging es um den gescheiterten Putsch, doch dann musste Sarah noch etwas anderes loswerden: »Du, ich glaube, ich habe heute früh Fritzi Massary gesehen, bei uns am Anhalter Bahnhof.«

      Wie sehr verehrte Sarah die Massary, den großen Operettenstar aus Österreich! 1904 hatte sie noch nicht im Metropol-Theater sitzen können, als Fritzi Massary mit ihrem berühmten Chanson Im Liebesfalle, da sind sie nämlich alle ein bisschen trallala Berlin eroberte. Doch seit sie die Diva zum ersten Mal auf der Bühne erlebt hatte, 1917, mitten im Krieg, in Die Rose von Stambul, war sie ein ausgemachter Fan. Noch vor kurzem hatte sie die Schauspielerin in Oscar Straus’ Der letzte Walzer und in Leo Falls Die spanische Nachtigall im Berliner Theater in der Charlottenstraße bewundert. Doch nun hatte Sarah zu ihrem Bedauern gehört, dass die Massary und ihr Mann, der Charakterschauspieler Max Pallenberg, mit Max Reinhardt nach Österreich gehen wollten.

      »Auch da gibt’s keinen Kaiser mehr«, sagte Jerxheimer.

      »Wenigstens ist uns der Kapp erspart geblieben.« Sarah war froh, dass es in Deutschland keinen Bürgerkrieg gegeben hatte.

      »Aber sie haben so viele Offiziere ins Wasser geschmissen.« Jerxheimer kam gar nicht mehr los von diesen Bildern. »Was haben wir uns das damals gewünscht, auf dem Kasernenhof, als sie uns geschurigelt haben! Doch so was dann wirklich zu machen, ist doch etwas ganz anderes.«

      »Es war ’ne Gegenrevolution.« Den Begriff hatte Sarah im Hotel gehört. »Und auch ’ne Gegenrevolution ist ’ne Revolution – und bei ’ner Revolution, da … da …« Sie kam nicht auf den richtigen Vergleich, und ihr Vater brachte den Satz zu Ende.

      »…

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