Psycho im Märchenwald. Sebastian Bartoschek
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Was aber nicht fehlen darf, ist der Blick auf den Stil und die Sprache des Volksmärchens sowie die Zeit, in der sie von den Brüdern Grimm gesammelt und niedergeschrieben wurden. Denn mit ein wenig Hintergrundwissen wird die Einordnung der einzelnen, hier ausgewählten Märchen leichter.
Wer ein wenig über die Eigenschaften des Europäischen Volksmärchens erfahren möchte, kommt an Max Lüthi nicht vorbei. Eigens für den 1909 in Bern geborenen Literaturwissenschaftler wurde 1968 an der Uni Zürich ein Lehrstuhl für Europäische Volksliteratur geschaffen. Sein Promotionsthema war Die Gabe im Märchen und in der Sage. Bis 1984 hat Lüthi an der Enzyklopädie des Märchens mitgearbeitet, ein Mammutprojekt, das noch immer nicht abgeschlossen ist und das seit 1982 von Rolf Wilhelm Brednich herausgegeben wird. Der Volkskundler dürfte Ihnen, liebe Leser als Herausgeber der Sagensammlung Die Spinne in der Yucca-Palme sowie der Folgebände bekannt sein.
Lüthi hat sich um die Beschreibung von Aufbau, Sprache, Stil und Herkunft des Märchens, insbesondere des europäischen Volksmärchens verdient gemacht. Einige seiner Erkenntnisse und der seiner Vorgänger und Kollegen sollen an dieser Stelle nicht fehlen, um die Grundlage für die folgenden Kapitel zu schaffen.
Die Tatsache, dass Märchen immer „gut ausgehen“, ist sprichwörtlich und findet sich in vielen Redewendungen unserer Alltagskultur wieder. Am Ende bekommt der Prinz die Prinzessin, die böse Hexe ihre Strafe und der Held seine wohlverdiente Belohnung. Aber wie läuft der Plot bis zum „und wenn sie nicht gestorben sind“ ab? Die Antwort auf diese Frage lautet: Nach einem festen Schema, das eingängig und formelhaft ist.
Am Beginn der Handlung kann eine Notlage stehen, wie z. B. bei HÄNSEL UND GRETHEL, die von den Eltern ausgesetzt werden, da sie von ihnen nicht mehr versorgt werden können. Dem oder den Helden kann aber auch eine Aufgabe gestellt werden, wie im Märchen Die drei Brüder, in dem die Protagonisten sich in der Welt verdingen müssen, damit der Vater unter ihnen den Erben des Hauses auswählen kann. Manchmal ist es auch einfach die pure Abenteuerlust, die den Helden hinaus treibt. Kurz wird eine wie auch immer geartete Schwierigkeit beschrieben, die bewältigt werden muss.
Die nächste strukturelle Eigenschaft, die Lüthi auf der Grundlage seiner Erzählforscherkollegen beschreibt, ist die Einteilung in zwei oder gar drei Abschnitte. Vor allem der Dreierrhythmus dürfte Vielen bekannt sein, z. B. aus Aschenputtel, das dreimal dem Prinzen begegnet und beim dritten Mal den berühmten Schuh verliert. Und am Ende des Märchens, na, Sie wissen schon.
Die Sprache des Volksmärchens hat – ebenso wie der Aufbau – einen hohen Wiedererkennungswert. Überall begegnen uns auch hier Formeln, Verse und Sprüche, die einen ganz eigenen Stil prägen. Ein Beispiel: In DIE GÄNSEMAGD spricht die als ebensolche verkleidete Prinzessin jeden Morgen beim Hinaustreiben der Gänse aus der Stadt zum abgeschlagenen (!) Kopf ihres Pferdes:
„O du Falada, da du hangest“,
Und der Kopf antwortet mit dem Sprüchlein:
„O du Jungfer Königin, da du gangest,
wenn das deine Mutter wüßte,
ihr Herz tät‘ ihr zerspringen.“
Das Tier, vermeintlich durch seinen grausamen Tod von einer hochmütigen Magd der Prinzessin zum Schweigen gebracht, verrät natürlich trotzdem zum Schluss, dass die Verräterin nur den Platz der rechtmäßigen Königin an der Seite des jungen Königs eingenommen hat und – ja genau – die Magd entgeht nicht ihrer Strafe und die Heldin herrscht zum Schluss zusammen mit dem König in Frieden und Eintracht.
Dass auch Sprache und Stil des Märchens formelhaft sind, mag nicht verwundern, wenn man bedenkt, dass die Märchen mitten aus dem Volk gegriffen sind, bzw. einer Tradition mündlicher Weitergabe entstammen. Im Falle der Kinder- und Hausmärchen ist allerdings die Frage, wie viel „Stimme des Volkes“ noch in den Volksmärchen steckt, die von Jacob und Wilhelm Grimm gesammelt und vor allem von Wilhelm Grimm spätestens ab der 2. Auflage von 1819 auch noch gehörig überarbeitet wurden. Doch dazu später mehr.
Ebenfalls auffällig ist, dass Personen, Gegenstände und die Natur flächenhaft wirken. Märchen zeichnen sich nicht gerade durch langwierige und detaillierte Beschreibungen aus, es nennt und schildert nicht, wie Lüthi feststellt. Die einzelnen Figuren haben eine scharfe Kontur und grenzen sich stark voneinander ab. Sprich, es gibt die schöne Königstochter, die böse Stiefmutter, die eiserne Stadt, den großen Drachen und so weiter. Die Beschreibung geht nie in die Tiefe, sondern glänzt durch Sparsamkeit. Oder wie Lüthi sagt, das Märchen „kennt keine Schilderungssucht.“1
Von dieser Eigenschaft weichen die Brüder Grimm sogar zum Teil ab, wenn sie einer Hexe rote Augen und einen wackelnden Kopf verpassen, statt, wie im Volksmärchen nur von einer „häßlichen Alten“ zu sprechen.
Märchenheldinnen und -helden stehen allein da. Sie sind ausgegrenzt und müssen ihre Probleme so lange auf eigene Faust bewältigen, bis ein Helfer, sei es ein übernatürliches Wesen, ein Tier oder eine freundliche Seele eingreift und ihr oder ihm zur Seite steht. Und auch mit Sidekicks und Requisiten ist das Märchen geizig. Sie tauchen auf, um einen bestimmten Zweck zu erfüllen und verschwinden dann wieder in der Versenkung. Alles geschieht punktuell und nur, um die Handlung voranzutreiben.
Wenn wir einen genaueren Blick auf die Ausstattung werfen, so fallen ein paar Merkmale besonders auf. Märchen haben eine Vorliebe für Kontraste, sowohl was Farben, als auch was Materialen angeht. Lüthi beschreibt den Prozess des Metallisierens und Mineralisierens, der nicht nur unbelebte Gegenstände betrifft, sondern auch Pflanzen Tiere und Menschen. Alles kann im Märchen aus Gold, Silber, Glas, Eisen, Kupfer oder Diamant sein.2
Äußerst merkwürdig verhält es sich zudem mit dem Faktor Zeit im Märchen. Er fehlt nämlich im Prinzip, das Märchen ist also zeitlos. Menschen und Tiere werden in ihrem Zustand beschrieben – sie können jung, alt oder sogar uralt sein, aber genau das bleiben sie dann auch. Selbst bei jahrelanger Verzauberung, bleibt alles beim Alten – man denke nur an die hundert Jahre Schlaf in „Dornröschen“. Wird der Zauber unwirksam, stellt man fest, dass für die Opfer überhaupt keine Zeit vergangen ist.
Da wir gerade mit Max Lüthi einen „Helden der Erzählforschung“ genannt haben, kommen wir nicht darum herum, noch zwei weitere zu erwähnen. Der Finne Antti Aarne und der US-Amerikaner Stith Thompson haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts ganze Arbeit geleistet, um die Fülle von Volksmärchen aus Deutschland, Finnland und Dänemark zu beschreiben und nach einzelnen Motiven zu katalogisieren. Den Anfang machte Aarne im Jahr 1910 mit seinem Verzeichnis der Märchentypen mit Hülfe von Fachgenossen, Thompson legte 1927 nach und ergänzte Aarnes Vorarbeit. Im Jahr 1961 war dann schließlich mit The Types of the Folktale. A classification and bibliography das entstanden, was in Fachkreisen bis 2004 abgekürzt AaTh hieß. Nach einer Überarbeitung durch den Erzählforscher Hans-Jörg Uther nennt man das Nachschlagewerk nun Aarne-Thompson-Uther oder schlicht ATU.
Der Clou an der Sache ist, dass man dank Aarne und Thompson zum Beispiel recht schnell nachvollziehen kann, welches Motiv in welchen Märchen vorkommt. Wenn man also beispielsweise wissen will, wie oft und wo so etwas wie ein verzauberter Prinz in verschiedenen Volksmärchen vorkommt, muss man sich die entsprechende Motiv-Gruppe im Aarne-Thompson-Uther-Index ansehen.
Die Motive sind im ATU unter bestimmten Überschriften zusammengefasst, die sich an den herausstechenden Merkmalen einer Märchengruppe orientieren. Da haben wir zum Beispiel die große Gruppe der Zaubermärchen, die von Nummer 300 bis 749 reicht. Zaubermärchen heißen die Geschichten deshalb, weil sie Magie und Übernatürliches