Psycho im Märchenwald. Sebastian Bartoschek
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Die Kunst des Weglassens von ausufernder Beschreibung und Ausstattung, von der wir weiter oben gesprochen haben, hat wesentliche Vorteile, wenn man eine Geschichte mündlich zum Besten geben möchte. Darüber hinaus führt das Geizen mit Adjektiven dazu, dass sich jeder Hörer (und schließlich Leser) sein eigenes Bild von der Szenerie macht. Wir als „Konsumenten“ sind ziemlich geschickt darin, die Lücken zu füllen und damit eine ganz eigene Version des Märchens zu schaffen. Sicherlich spielt auch dieses Stilelement eine eigene Rolle in der neverending story der Märchenerfolge in Literatur, bildender Kunst, Film und Fernsehen.
Es ist verlockend, sich noch viel tiefer in die Analyse von Form und Stil des europäischen Volksmärchens zu stürzen und wem dieser kurze Parforceritt nicht genügt, dem seien die Abhandlungen Lüthis wärmstens ans Herz gelegt. Auch bei der Betrachtung der hier ausgewählten Märchen selbst, wird sicher das ein oder andere noch zur Sprache kommen.
Das alles soll aber nicht heißen, dass es zu Beginn des 19. Jahrhunderts und der Sammeltätigkeit der Grimms nur eine Version jedes Märchens gegeben hat. Beileibe nicht. Auch in dieser Hinsicht haben Jacob und Wilhelm ausgewählt, zusammengestellt und verändert. Das Ergebnis ist eine romantisch getönte und von Bürgerlichkeit durchdrungene Version des „Volksmärchens“, die es in den Kanon der Kinder- und Hausmärchen geschafft hat. Damit haben die beiden unser heutiges Bild von Märchen so entscheidend geprägt, dass die meisten von uns gar nicht mehr wissen, dass es viele kleine Schnipsel der bekannten Geschichten gibt, die nur in den Anmerkungen der Verfasser selbst auftauchen. Warum das alles, wenn man doch eigentlich streng wissenschaftlich gesehen, 1:1 das aufzeichnen müsste, was die Märchenerzähler von sich geben? Jacob Grimm hätte dem sicher zugestimmt, denn ihm ging das Umschreiben, Ergänzen und Aufhübschen der Volkserzählungen vollkommen gegen den Strich. Mit dieser Einstellung schwamm er zu Beginn des 19. Jahrhunderts allerdings ziemlich gegen den Strom. Als sich die Hessischen Juristen Jacob und Wilhelm Grimm, inspiriert durch eine Idee des Schriftstellers Clemens Brentano an die Volksmärchensammelei machten, war es gute Tradition, beim Umgang mit den Volkserzählungen seine eigene Schreibkunst einfließen zu lassen. Der Grund hierfür liegt vielleicht in der merkwürdigen Beziehung der Schriftsteller zu diesen Stoffen, die irgendwo zwischen Verehrung und Verachtung rangiert. Das 18. Jahrhundert, die große Zeit der Aufklärung hat die „Ammenmärchen“ noch lächerlich gemacht und mit Füßen getreten. Doch es zeichnet sich eine neue Entwicklung ab, nämlich die Stimme des Volkes in Liedern, Sagen und eben auch Märchen auf ein Podest zu heben und zur eigentlichen Kunst zu verklären. Jacob Grimm beispielsweise kam alles künstlerisch geniale, das den Volksstoff verfälscht, fast schon dekadent vor.
Heiko Postma beschreibt in seinem Büchlein über die Grimms auf unterhaltsame Weise die Entwicklung von Jacob und Wilhelm zu Märchen- und Sagensammlern.3 Die beiden Brüder, die – in Hanau geboren – aus einer Steinauer Advokatenfamilie stammten, erhielten durch ihren Universitätsprofessor, den Rechtshistoriker Karl von Savigny, Zugang zu einem illustren Kreis, bestehend aus Achim von Arnim, dessen Frau Bettine, Gunda Brentano und jenem schon erwähnten Clemens Brentano. Auch den Grundstein für die Faszination für Alt- und Mittelhochdeutsche Literatur und Volksprosa hatte von Savigny gelegt, in dem er den beiden seine Bibliothek zugänglich machte. Im Prinzip hatte die Welt in diesem Augenblick zwei Juristen verloren, aber dafür zwei künftige Begründer einer neuen Fachrichtung, der Germanistik, gewonnen.
Zunächst einmal unterstützten sie Brentano und von Arnim bei der Veröffentlichung der Folgebände zu Des Knaben Wunderhorn, einer Sammlung von Volksliedern, die die Schriftsteller einige Jahre vorher begonnen hatten. Und sie kamen auf den Geschmack, das Studium in Marburg war beendet und die beiden Brüder waren wieder in Kassel, wo sie Jahre zuvor schon das Gymnasium besucht hatten. Weihnachten 1812 kam der erste Band der ersten Ausgabe der Kinder-und Hausmärchen (KHM) mit DER FROSCHKÖNIG ODER DER EISERNE HEINRICH als Nummer eins, 1815 folgte der zweite Band.
Leider verkaufte sich das Werk nicht unbedingt gut, die (fast) naturbelassenen Texte und der wissenschaftlich anmutende Anmerkungsapparat kamen beim Publikum nicht an. Zu sehr ins Detail gehen können wir an dieser Stelle nicht, was die Versionsgeschichte der Kinder- und Hausmärchen betrifft, die von einer handschriftlichen Urfassung von 1810 bis zur Ausgabe letzter Hand von 1857 reicht. Und natürlich bis heute unzählige Neuauflagen, Übersetzungen und Bearbeitungen umfasst.
Festhalten müssen wir allerdings, dass Wilhelm Grimm bei der Veröffentlichung der zweiten Auflage von 1819 das fortsetzt, was er schon beim zweiten Band vorsichtig begonnen hat, nämlich das sprachliche und inhaltliche Umgestalten und redigieren der „Originalversionen“. Er nutzte dazu die Abwesenheit seines strengen Bruders Jacob aus. Den verschlug es in dieser Zeit, dank des Sieges über Napoleon in der Völkerschlacht von Leipzig 1813 beruflich erst nach Paris und dann zum Wiener Kongress. Erst im Dezember 1815 hatten Kassel und Bruder Wilhelm ihn wieder.
Natürlich fiel es Jacob auf, was Wilhelm klammheimlich mit den Texten und mit dem Anmerkungsapparat getrieben hatte und entsprechend ungehalten war er dann auch. Wilhelm war auf dem Weg, eine eigene „Märchensprache“ zu entwickeln, setzte die schriftliche Version manchmal aus verschiedenen Fassungen zusammen und entwickelte sogar zum Teil aus einzelnen Motiven neue Märchen. All das widersprach nach Jacobs Meinung dem Gedanken der Erhaltung der Volkspoesie, in die man nicht mit Kunstfertigkeit hineinpfuschen sollte. Da sich die beiden nicht einig werden konnten, war Wilhelm von da an für die KHM zuständig und Jacob zog sich aus dem Projekt zurück.
Statt einen geplanten dritten Band zu veröffentlichen, fügte Wilhelm die Neuzugänge in die zweite Auflage der ersten beiden Bände ein und veröffentlichte den Anmerkungsapparat nicht mehr zusammen mit der Sammlung, sondern als einzelnes Werk. Er hatte schon lange eher das jüngere Publikum, sprich Kinder, im Sinn gehabt und legte auch dementsprechend Hand an die Texte, die somit (leicht) entschärft wurden. Wie sich das auf die verschiedenen Fassungen der Ausgaben auswirkte, werden wir an später noch an einzelnen Beispielen sehen.
Auch was die Quellen der Brüder Grimm und das Sammeln der Märchen selbst betrifft, gibt es viele Missverständnisse. Die Vorstellungen davon, wie die Entstehung der KHM von Statten ging reichen von „die Brüder Grimm haben die Märchen geschrieben“ bis „Jacob und Wilhelm sind mit Papier und Feder von Bauernhof zu Bauernhof gewandert und haben das einfache Volk befragt“. Und wie so oft liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen.
Die Treue zum Mündlichen haben wir ja gerade zerpflückt und auch was die „Quellen aus dem Volk“ angeht, muss man relativieren. Zunächst einmal haben einige der Märchenerzähler hugenottische Wurzeln und die von ihnen erzählten Geschichten damit einen französischen Einschlag. Dorothea Viehmann, die von den Grimms als Bäuerin aus dem Dorf Zwehrn vorgestellt wird, ist weder Bäuerin (vielmehr Frau eines Schneidermeisters), noch seit Generationen bei Kassel beheimatet, denn sie hat hugenottische Vorfahren. Ebenso wie Marie und Jeanette Hassepflug, die in Kassel als Märchenquelle dienten. Die Nähe der Grimmschen Märchen zu den französischen Feenmärchen ist damit nicht von der Hand zu weisen. Und tatsächlich finden sich einige der Märchen, die der Franzose Charles Perrault bereits Ende des 17. Jahrhunderts gesammelt und (stark bearbeitet, wir kennen das bereits) veröffentlicht hat, in den KHM wieder. Doch auch dazu später mehr.
Auch die Damen der Kasseler Apothekersfamilie Wild hatten französische Wurzeln und auch hier kann man nicht vom „einfachen Volk“ sprechen, sondern eher vom Bürgertum. Eine der Töchter der Familie, Henriette Dorothea, wurde 1825 Wilhelm Grimms Frau.
Mit Friederike Mannel haben wir dann noch eine Pfarrertochter, mit Ferdinand Siebert einen Theologen und mit der Familie von Haxthausen sowie der Baroness Jenny von Droste-Hülshoff sogar den Adel unter den Märchenlieferanten. Bauernvolk sucht man also vergebens.
Geografisch