Ruanda. Gerd Hankel
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Ein ungeheurer Gedanke, und einer, der wohl mehrmals gelesen werden muss, wenn er ganz begriffen werden will. Diejenigen, die sich als die Befreier des Landes von einem völkermörderischen Hutu-Regime präsentieren und daraus den unbedingten moralischen Anspruch für die Gestaltung seiner Zukunft herleiten, sollen Krieg und Massenmord willentlich herbeigeführt haben? Sie sollen aus reinem Machtinteresse gehandelt haben und dabei buchstäblich über Leichen gegangen sein? Ist also das offizielle Wehklagen über die vielen Opfer und über die selbstsüchtige Arroganz des Westens nichts als eine zynische Inszenierung? – Ein schwer erträglicher Gedanke, selbst wenn man schon den einen oder anderen Blick in die Untiefen menschlichen Verhaltens geworfen hat.
Doch Roméo Dallaire ist nicht irgendwer. Über ein Jahr lang war der Kanadier vor Ort und hat sich ein Bild machen können von den handelnden Personen und ihren Motiven. Bei ihm liefen alle Informationen zusammen. Er traf sich mit Vertretern der extremistischen Hutu-Regierung und mit Militärs, für die die Zukunft Ruandas nur ohne Tutsi denkbar war. Er traf sich auch mit Vertretern der sogenannten Befreiungsarmee, meist mit deren Anführer Paul Kagame, die den Fanatismus der Gegenseite in eigene Stärke umzuwandeln verstanden und doch weit weniger vom Schicksal der bedrohten Menschen als vom Ziel der möglichst uneingeschränkten Erlangung der Macht angetrieben waren. Davon ist bei Dallaire an mehreren Stellen zu lesen und der Umstand, dass er dies noch Jahre später so aufgeschrieben hat, spricht gegen einen nur oberflächlichen Eindruck. Sein Stellvertreter, der belgische Oberst Luc Marchal, kommt im Übrigen in seinen Erinnerungen an seine Dienstzeit in Ruanda zum selben Ergebnis.4 Es sei Kagame und seiner Armee allein um die Erlangung der Herrschaft gegangen. Der Preis, den die Bevölkerung und namentlich die Tutsi dafür bezahlen mussten, spielte keine Rolle, schreibt Marchal.
Aber macht das einen Völkermörder etwa nicht zu einem Völkermörder? Ist das Verbrechen eines Hutu, der Tutsi – Männer, Frauen, Kinder – umgebracht hat, deshalb ein weniger großes Unrecht? Sind Paul Kagame und die Kämpfer seiner Befreiungsarmee die eigentlichen Täter? Dergleichen zu behaupten wäre Unsinn. Die Hutu, die getötet und den Völkermord begangen haben, diejenigen unter ihnen, die zur bösesten Erniedrigung und Vernichtung der Tutsi-Nachbarn aufgestachelt haben, waren keine willenlosen Werkzeuge eines abgefeimten Kriegsgegners. Sie wussten, was sie taten, wenn sie es auch aus unterschiedlichen Motiven oder Situationen heraus taten.
Mit ebensolcher Bestimmtheit allerdings wird man sagen müssen, dass auch der Kriegsgegner, an seiner Spitze Paul Kagame mit seinen Offizieren, eine Verantwortung für die dramatische Zuspitzung der Ereignisse trägt – sofern die Auffassung von Dallaire und Marchal über Vorgeschichte und Verlauf des Völkermords zutreffend ist. Dass sie das ist, davon sind viele Ruander überzeugt. Ich selbst sprach mit Hunderten von ihnen. Mit Männern und Frauen, Hutu und Tutsi, Tätern und Überlebenden, in allen Teilen dieses kleinen Landes, immer wieder und über Jahre hinweg. Von wenigen Ausnahmen abgesehen waren sie überzeugt davon, Opfer eines teuflischen Plans geworden zu sein und hatten jeweils Geschichten zu erzählen, die ihre Überzeugung begründeten.
Ob diejenigen unter meinen Gesprächspartnern, die Täter waren, sich aus Berechnung, Scham oder Wut so äußerten, weiß ich bis heute nicht. Darum waren und sind die Gespräche mit den Tätern auch nicht ursächlich für mein sich allmählich herausbildendes Verständnis von der fürchterlichen Instrumentalisierung des Völkermords durch die neuen Machthaber. Das wurde vielmehr zum einen beeinflusst durch den Schmerz der Überlebenden, die zum Teil mehrere Dutzend Familienmitglieder verloren hatten (der Preis, den die Tutsi-Minderheit laut Kagame angeblich »für die Sache« zahlen musste)5 und die in ihrer Erinnerung obendrein vergeblich nach einem Grad an Diskriminierung suchten, die ein militärisches Eingreifen zu ihrem Schutz gerechtfertigt hätte. Zum Zweiten war es der Kollektivschuldvorwurf, der sich pauschal und mit erheblicher Vehemenz an die Hutu-Bevölkerung richtete, obwohl viele Tutsi von Hutu gerettet worden waren (unter Umständen und in einer Größenordnung, die die Deutschen der 1930er und 1940er Jahre beschämen müssten), und der zudem absichtlich ignorierte, dass auch Hutu zu den Opfern der Massaker zählten (Oppositionelle und »gebildete Hutu« aus dem Süden, die nach Meinung der Extremisten aus dem Norden des Landes durchweg als zu »weich« und »unzuverlässig« galten). Zum Dritten schließlich zeigte mir die Art und Weise, in der die neuen Machthaber sich den Staat, dessen Bevölkerung und Geschichte aneigneten, dass an einer wirklichen Aufarbeitung des Völkermords kein Interesse bestand. Autoritär in der Vorgabe einer Wahrheit, die von der großen Mehrheit der Ruanderinnen und Ruander nicht geteilt wurde und wird, und in der Folge zunehmend totalitärer agierend, um Widerstand im Keim zu ersticken, das war und ist nach meinem Eindruck der vorherrschende Wesenszug des neuen Ruanda.
Was daraus konkret für das Land Ruanda, das Leben der Ruanderinnen und Ruander und – auch sie waren unmittelbar betroffen – die Menschen im Ostkongo folgte, beschreibe und erkläre ich in den Teilen drei bis fünf des Buchs. Die Periodisierung, die ich hier wie in den vorhergehenden zwei Untersuchungsteilen vorgenommen habe, ist keine offizielle. Sie entspringt meiner persönlichen Wahrnehmung der Entwicklung Ruandas, in der Schwerpunkte gesetzt und Selbstbilder geprägt wurden. Ich habe sie in Überschriften zusammengefasst und ihnen die Darstellung der jeweiligen Entscheidungen, Geschehensabläufe und ihrer Hintergründe zugeordnet. Immer dabei, als gewissermaßen klettenartiger Begleiter der einzelnen Untersuchungsschritte, ist der pragmatische Zynismus des Regimes. Wer, einem einmal gefassten Plan zufolge, die Macht wollte, musste eben alles unterdrücken, was diesen Plan gefährden könnte. Wie sagte mir einer der höchsten Gacaca-Beauftragten 2005, als Ruanda in die Phase der geplanten Konsolidisierung eintrat: »Wir werden nur die Völkermordverbrechen zur Verhandlung zulassen. Ließen wir alle Verbrechen zur Verhandlung zu, würde uns die ganze Sache um die Ohren fliegen.«6
So geschah es, und der Begriff des Völkermords begann, die jahrelange Abfolge von Krieg, Vertreibung und Massenmord in einer Ausschließlichkeit zu dominieren, die eine differenziertere Sicht erschwerte. Als weitere Erschwernis kam noch hinzu, dass die Diskussion über Ruanda zu einem Tummelplatz für Verschwörungstheoretiker, Völkermordleugner oder Anhänger der Theorie vom doppelten Völkermord (einem an den Tutsi, einem an den Hutu, jeweils 1994 mal von extremistischen Hutu, mal von extremistischen Tutsi begangen) wurde. Auf ein Unrecht kam ein viel größeres, ein so großes, dass es das erste (sofern es überhaupt anerkannt wurde) zum Verschwinden brachte, das war und ist ihr Credo, das sie umso lauter herausposaunen, je erfolgreicher sich das neue Ruanda präsentiert.
Die dritte Gruppe der von Jacob Finci skizzierten empiriebedachten Wissenschaftler schwieg, stumm gemacht von der Vielzahl widersprüchlicher Eindrücke und Berichte, die sie über eine lange Zeit sammelten. Und in der Tat war auch die Geschichte Ruandas vor, im und nach dem Völkermord komplex und von gegensätzlichen Interessen geprägt, die notfalls gewaltsam durchgesetzt wurden. Aber es gibt Antworten und Erklärungen, die darüber Aufschluss geben, wie der Neuaufbau Ruandas nach dem Völkermord vonstatten ging und warum die neue Staatsmacht so agierte, wie es sich in etlichen Entscheidungen und Maßnahmen äußerte. Es ist eine dunkle Geschichte und sie bleibt dunkel, auch wenn die eingangs angesprochene andere Seite in der Entwicklung des Landes, wonach Ruanda ein subsaharischer Vorzeigestaat geworden ist, in den Vordergrund gerückt wird. Man mag dazu neigen, diese Seite der Geschichte für die eigentliche zu nehmen und mit Unverständnis und Ablehnung auf Kritik an Ruanda zu reagieren. Ich halte das für falsch. Wenn die Gründungslüge des neuen Ruanda ignoriert und die Implementierung totalitärer Strukturen verharmlost werden, kann aus dem Ergebnis dieses Vorgangs nicht die Existenz einer