Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 40/41. Hanno Plass
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Zweitens wird aus einer genetischen bzw. genealogischen Perspektive, letzteres unter Berufung auf die Leibphilosophie Nietzsches, die Adorno in die Negative Dialektik hat einfließen lassen,48 das Nichtidentische als sinnlich-somatisches Moment bezeichnet. Dieses Moment ist – so die Vorstellung – gleichsam unterschwellig, besser noch: subkutan im Begriff aufgespeichert. Unterhalb der abstraktiven Leistung des Begriffs ruhen Leib- bzw. Empfindungserfahrungen, die in die Begriffsbildung konstitutiv eingeflossen sind, aber im fixierenden, abstraktiven Begriff nicht mehr offen präsentierbar sind. Die genuine Unsinnlichkeit des Begriffs vermag die sinnlichen Qualitäten der Erfahrungsobjekte nicht direkt auszudrücken, allenfalls indirekt. Als Erfahrungsrudiment »schwingt […] die subjektive Empfindung im gewählten Begriff noch mit«, weil »der Gegenstand« dem »Subjekt eine affektive Reaktion aufzwingt«, wenn er »in der engsten Fühlung erlebt wird«49. Die These ist also, dass allein in der expressiven Schicht der Sprache die ursprünglich affektive Reaktion noch zu detektieren ist. Dies mag im Vermögen des sprachlichen Ausdrucks, seiner expressiven Natur, insbesondere dort, wo sie keine epistemologische Funktion, sondern nur poetische Darstellungswirkung haben soll, noch angehen – aber auch im philosophischen Begriff?
Zudem gibt es einen sprachtheoretischen Einwand. Zwar stehen erkennende Subjekte in einem sinnlichen Verhältnis zur Objektwelt; die Umformung zur Objekterkenntnis, zu deren begrifflicher Erschließung, ist jedoch nur im Medium der Sprache möglich. Die Restitution eines subjektiven Empfindungsvermögens in die Welterschließungsfunktion der Sprache bedeutet nichts anderes als ein Repräsentationsdenken, das die sinnliche Erfahrung durch die Begriffssprache – wenn auch hintergründig – abbildbar machen soll. Außerdem: Wenn Adorno das Nichtidentische auch als das Intentionslose bezeichnet hat, so beruht jede sprachliche Ausdrucksgestaltung von Empfindungen letztlich auf intentionalen Akten, die wiederum nur Bewusstseinsintentionen eines Subjekts sein können. Die argumentative Rückführung des Nichtidentischen auf sinnlich-somatische Erlebnisqualitäten kappt eine zentrale Pointe der negativ-dialektischen Kritik am Begriff: dass das Nichtidentische sich nur negativ bestimmen lässt und nicht in der Ausspielung des Sinnlichen gegen das Begriffliche. Der gewählte Umweg über die Reklamation eines subjektiven Empfindens, das vorrangig in die Begriffsbildung eingeht, unterschlägt dessen sprachtheoretische Klärung. Der Weg orientiert sich bei der Genese der Begriffsbildung immer noch kantianisch an der Synthese von Sinnlichkeit und Begrifflichkeit. Letztlich ist fragend anzumerken: Hat Adorno den Ausdruck ›Empfindung‹ nicht für alles unbegriffliche Denken, für falsch verstandene Konkretionen eines nur diffus erfahrbaren ›Unmittelbaren‹, reserviert?
Drittens existiert eine Lesart, die das Nichtidentische von den ethischen Implikationen her, die in der Negativen Dialektik argumentativ ausgestreut sind, bestimmt. Das Nichtidentische wird dadurch nicht mehr zum Verhandlungsterminus für eine negativ-dialektische Begriffskritik, sondern vielmehr dafür, was letztlich das Motiv adornoschen Denkens ist: rettende Kritik durch den Bruch mit der Identitätsdialektik. Erst nach dem Freiwerden vom tradierten Denken, das die Welt der Objekte begrifflich unter sich subsumiert, stellt sich ein, was die Programmatik negativdialektisch impliziert, wenn auch im kontrafaktischen Zustand. Diese Lesart schließt insofern an Adorno an, als dieser betont hat, negative Dialektik
»gäbe das Nichtidentische frei, entledigte es noch des vergeistigten Zwanges, eröffnete erst die Vielheit des Verschiedenen, über die Dialektik keine Macht mehr hätte. Versöhnung wäre das Eingedenken des nicht länger feindseligen Vielen, wie es subjektiver Vernunft anathema ist. Der Versöhnung dient Dialektik«.50
Das Nichtidentische wird so zum Leitbegriff eines Versöhnungsdenkens in geschichtsphilosophischer Reichweite. Die epistemologische Korrektur, die erkenntnisreflexive Maxime der Negativen Dialektik wird eingebettet in einen Wahrheitsanspruch, den Begriffe einlösen sollen: »Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit«51. Vom Standpunkt der philosophischen Referenz heißt dies:
»Die Adornosche negative Dialektik will nichts anderes. Materialistisch sucht sie, noch das Leiden in sich hineinzunehmen […], um einem veränderten Begriff von Erkenntnis den Weg zu bahnen. Genügen würde ihm erst eine solche, welche dem Leiden, das in ihren ›Begriffen sich sedimentierte‹, zum Eingedenken verhülfe«52.
Der Terminus ›materialistisch‹ gemahnt freilich an ein marxistisches Widerspiegelungstheorem in der Erkenntnisbegründung, dem Adorno vehement widersprochen hat: »Hinter jener These [des Materialismus] steht die Verachtung des Geistes zugunsten der Vormacht materieller Verhältnisse als des Einzigen, das da zähle«53. Zudem bleibt die aporetische Frage, die unterhalb einer ethischen Forderung an die Erkenntnis virulent ist, ungelöst: Wenn Leiden, zumal geschichtliches Leiden, in »Begriffen sich sedimentierte«, wie drückt sich diese Sedimentierung im Begriff aus? Und wie ist die Erfahrungsgeschichte in geschichtlichen Begriffen aufbewahrt, sodass sie als beredtes Leiden sich erneut artikulieren kann? Die Crux solcher Fragen liegt darin begründet, dass Begriffe, zumal die philosophischen Termini, aus diskursiven Praktiken stammen, diese aber nie selber direkte Übersetzungen erlebter Leidensprozesse sind. Zwar mögen sich diese diskursiven Praktiken, ihre semantischen Haushalte, durchaus aufgrund von realgeschichtlichen Ereignissen verändern bzw. umcodieren, jedoch sind sie keine kollektiven Gedächtnisbehälter, in denen geschichtliches Leiden eingelagert ist. Wäre dem so, hieße dies, dass geschichtliche Begriffe, zumal auf der Ebene philosophischer Terminologie, ihre semantischen Veränderungen direkt von diesen geschichtlichen Leidenserfahrungen erhalten, die sie widerspiegeln. Dies würde aber den diskursiven Veränderungspraktiken philosophischer Termini widersprechen, die gerade im Prozess intertextueller Auseinandersetzungen ihre originären Bedeutungsfestlegungen wie Wandlungen vollziehen. Der philosophische Begriff ›Freiheit‹ hat zum Beispiel seine eigene Geschichte von Bedeutungsverschiebungen, die aus den philosophischen Abarbeitungen seiner textuellen Auslegungspraktiken stammen, ist aber niemals ein direktes Sediment geschichtlicher Leidenserfahrungen. Zu meinen, dass in philosophischen Begriffen Leidenssedimente enthalten sind, macht diese Begriffe tendenziell zu Widerspiegelungsvokabularien von gesellschaftlichgeschichtlichen Leidensereignissen. Dies umgeht aber die begriffsgeschichtliche Deutungsmaxime, dass historische Begriffe nur der Niederschlag von vergangenen Artikulationspraktiken sind.54 Diese entwerfen niemals eine expressiv-sinnliche Textur geschichtlicher Leidenserfahrung selbst. Leidensgeschichten müssen ›erzählt‹ werden; dies ist ihre Beredsamkeit aus dem erlittenen Schmerz und Protest. Sie finden sich unter Umständen im historischen Quellenmaterial erzählend angezeigt, sedimentieren sich aber nicht im Schatten philosophischer Begriffe, die sich auf das Sinnganze der historischen Erfahrung auslegen.
Daher gilt: Historische Begriffe referieren auf eine vorgegebene textuelle Deutungspraxis, Leidenserzählungen referieren hingegen auf erlebte Geschichtsereignisse, die expressiv ›beredt‹ sein wollen. Die Hermeneutik philosophischer Begriffe ist nicht auf eine Resurrektion von Leidensartikulationen ausgelegt – ihr Ingenium ist es gerade, diese vergessen zu lassen. An historisch-philosophischen Begriffen kann nachträglich negativdialektisch nichts zum ›Eingedenken‹ gebracht werden. Es sei denn, man überdehnt sie in ihrer Bedeutsamkeit, sodass sie zu emphatischen Statthaltern einer ethischen Sollensforderung werden. Bei aller Sympathie dafür bleibt aber der Einspruch, dass ethische Forderungen nicht erkenntniskritische Bedenken und Reflexionen ersetzen können. Dies wäre auch für Adorno unzulässig. Das Fazit lautet daher: Der Begriff des Nichtbegrifflichen, der das Nichtidentische ausmachen soll, kann nicht dadurch gerettet werden, dass er zum materialistischen Schattensubstrat geschichtlicher Philosopheme erklärt wird. Die epistemologische Begriffskritik ist immer noch das Herzstück der Negativen Dialektik, auch wenn in ihr Appelle an die zivilisatorische Leidensgeschichte enthalten sind. Diese ist jedoch primär in der Dialektik der Aufklärung nacherzählt und geschichtsphilosophisch gedeutet.
Viertens gibt es Argumentationsweisen, die das Nichtidentische – ganz im Sinne der Intention der Negativen Dialektik – nicht fixieren, nicht versuchen, es begrifflich einzuholen. Für sie gilt, was der negative Reflexionsmodus der Negativen Dialektik intendiert: keine Klassifikation,