Himmel küsst Erde. Sonja Spitteler

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Himmel küsst Erde - Sonja Spitteler

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geben. Die erste Zeit wird den Namen Frühling tragen und der Ostwind wird sein Wächter. Es werden die kraftvollsten Tage sein, eine Zeit für Neuanfänge. Während dieser Tage steht alles in voller Größe, um Energie für den nächsten Wechsel zu sammeln. Danach wird der Sommer folgen, eine Zeit der Wärme und des Lichts unter dem Schutz des Südwindes. Es soll eine freudige und festliche Zeit sein, mit langen Tagen und kurzen Nächten. Nach Ablauf des Sommers wird der bunte Herbst mit dem Westwind Einzug halten. Pflanzen und Tiere beginnen sich auf die längeren Nächte vorzubereiten und ihre Kräfte zu schonen. Die Bäume werden ihre Blätter abwerfen, um den nackten Erdboden für die Zeit danach zu schützen. Sie dürfen ein letztes Mal in herrlichen Farben erstrahlen, zu Ehren der Sonne und des Lebens. Was dann kommt, wird die Zeit der Stille und Erholung sein. Der Winter wird Mutter Erde sowie allem Leben auf ihr die Gelegenheit geben, sich auszuruhen, nachzudenken und zu schlafen. Du, Vater Himmel, wirst deine Frau mit weißem, kühlem Schnee bedecken und weiterhin über sie wachen, während sie ruht. Dabei wird dir der kalte Nordwind helfen. Von nun an haben sich alle Lebewesen auf Mutter Erde an diesen Rhythmus zu halten. Die Wechsel dienen dem Schutz von Mutter Erde, ebenso wie der Sicherheit des Lebens. Du, Vater Himmel, und du, Wind mit deinen vier Kindern, seid dafür verantwortlich, die Pflanzen und Tiere daran zu erinnern. Ihr werdet die Wechsel einläuten und dafür sorgen, dass sich auch Mutter Erde daran hält."

      Und so wurde es beschlossen.

      Am Tag darauf rollte eine große Flutwelle über Mutter Erde, und als das Leben langsam wieder an die Oberfläche kam, hatte sich einiges verändert. Auf einmal gab es vier Himmelsrichtungen mit den vier Winden und vier Jahreszeiten. Es gab eine Zeit der Wärme, eine Zeit der Kälte und zwei Übergänge. Die Tiere und Pflanzen hatten sich bald angepasst. Von nun an blühten viele Blumen im Frühling, wenn die Tiere ihren Nachwuchs gebaren. So hatten die Jungen genügend Zeit, groß und stark zu werden, bis der Winter kam.

      Und Mutter Erde - sie war überglücklich, nie zuvor hatte sie wirklich an sich selbst gedacht. Stets hatte sie das Wohl des Lebens über das eigene gestellt und dabei vergessen, dass sie selbst es ist, welche das Leben erst möglich macht. Sie wusste nun, dass man zwischendurch für sich selbst sorgen muss, will man anderen helfen.

      Natürlich war auch Vater Himmel sehr zufrieden mit diesen vier Wechseln. Nicht nur schenkten sie seiner lieben Frau Erholung, sondern gaben ihnen auch Gelegenheit, etwas Zeit füreinander zu finden. So also wurde der Schnee aus Liebe geboren, aus der Liebe und Sorge von Vater Himmel zu seiner Frau, Mutter Erde. Und der Schnee … ihr könnt euch ja denken, was der Schnee ist … weiße, weiche Küsse...

      Aikarupata und der Flötenspieler

      Einst gab es einen Berg. Der Fels war ein Gigant und wer seinen Kopf in den Nacken legte, konnte dessen Spitze nur erahnen. Auf seinem starken Leib wohnten unzählige Wesen. Hohe Bäume reckten ihre Arme gen Vater Himmel, Blumen schmückten die steilen Hänge, Quellen entsprangen aus dem Berginnern. Viele Geschichten wurden hier geboren. Adler zogen ihre Kreise unter dem Himmelsdach und dank den vielen Nagetieren mussten sie hier nie hungern. Der Berg war ein Zuhause für alle, ein Ort der Ruhe und Selbstfindung. Selbst bei den Menschen genoss der Steinriese ein großes Ansehen. Von weit her pilgerten sie zum Berg. Die Menschen erhofften sich Heilung ebenso wie Weisheit von den alten Steinen. Aikarupata4 - der wachende Weise, so wurde der Fels genannt.

      Die Geschichten erzählen, dass der Steinriese der erste Fels auf Mutter Erde überhaupt gewesen sei. Ein Stein wächst nur sehr langsam. Sah man sich nun Aikarupatas Größe an, musste er wirklich alt sein. Aikarupata stammte aus einer Zeit, in welcher die Erde nur von den vier Elementen - Feuer, Wasser, Erde und Luft - belebt gewesen war. Der wachende Weise war dabei, wie die ersten Pflanzen ihre Wurzeln schlugen, um an seinen kleineren Hängen hoch zu wachsen. Er war hier, als die Tiere geboren wurden. Als die ersten Menschen kamen, war Aikarupata an Jahren gesehen schon ein Greis. Ihr seht also, Aikarupatas Wissen ist so alt wie die Welt. Die Menschen sahen in ihm den lebendigen Beweis für die Verbundenheit von Vergangenheit und Gegenwart. Aikarupatas graue Brocken berichteten von den Tagen, die einst waren. Sie sangen Lieder von Taten der ehemaligen Bewohner. Ehre deine Vorfahren, das verkörperte der Berg für die Menschen.

      Viele erwünschten sich das Privileg, auf Aikarupata leben zu dürfen, doch der Weise hatte seine eigenen Gesetze. So mochte er die Tiere lieber als die Menschen und erlaubte ersteren auf ihm zu hausen. Den Menschen jedoch verwehrte er den Zutritt auf seinen Boden. Sie durften in seiner Nähe ihre Lager aufstellen, um ihre Lieder zu singen, denn ihre Musik hörte er gerne. Nur ganz wenigen Menschen gab Aikarupata jemals Ratschläge, denn sie waren ihm seit jeher suspekt gewesen. Er konnte nicht erkennen, wozu sie gut sein sollten. Jedes Lebewesen auf Mutter Erde hatte seinen Zweck, aber was wollte er mit diesen merkwürdigen Geschöpfen anfangen?

      Aikarupata waren die Gesetze des Lebens heilig. Er lebte und wuchs mit Mutter Erde, ein endloser Zyklus aus Leben und Tod. Nichts währte ewig, nicht alles musste man immer verstehen. Dies war etwas, was ihn bei den Menschen verunsicherte. Sie mussten ihren Kindern erst beibringen, wie man mit dem Leben respektvoll umzugehen hatte. Die Tiere aber lebten Instinktiv so, wie es ihrer Natur entsprach.

      Es kam der Tag, da spürte der Weise, dass nun seine Zeit gekommen war. Sein Herz war zum ersten Mal von einer ungewohnten Müdigkeit befallen. Aikarupata hatte dies bei seinen Bewohnern schon oft beobachtet. Er wusste, dass alles vergänglich war. Seine Tage waren gezählt und er war bereit, nach Hause zu gehen, die körperlichen Grenzen hinter sich zu lassen. Aikarupata hatte keine Angst vor dem "danach", denn er wusste, der Große Geist würde ihn tragen. Seine Sorge galt einzig seinen Kindern, welche über diese lange Zeit in seinem Schutz hatten wachsen können. Da der Berg wusste, dass er zu gehen hatte, schickte er all seine Bewohner fort, um diese letzte Zeit in stillem Gebet verbringen zu können.

      Nach und nach verließen sie ihn alle. Zuerst flogen die Vögel davon, während Aikarupata ihnen mit leichter Wehmut nachblickte. Dann folgten die Wassertiere den Bächen hinab, verteilten sich in die Seen und Flüsse in seiner Umgebung. Mit ihnen gingen die Vierbeiner und die Insekten. Auch die Bäume und Pflanzen zogen sich langsam bis zu seinen Füßen zurück. Auf einmal versiegte das Wasser. Es fühlte sich seltsam an, so ganz ohne die Geräusche seiner Bewohner. Da aber sah Aikarupata, dass sich alle in seiner Nähe niedergelassen hatten. Sie wollten ihn bei seinem Abschied begleiten. Darüber war der Berg sehr glücklich. Was mehr konnte er sich vom Leben wünschen, als dass seine Freunde ihm bei seiner letzten Reise zur Seite stehen würden.

      Sonne und Mond wechselten sich viele Male ab und noch immer ragte Aikarupata hoch in den Himmel hinauf. Nichts als nackter Stein war von ihm übrig geblieben und dennoch nahm der Strom von Bittstellern nicht ab. Menschen kamen in Massen, denn sie konnten sich eine Welt ohne den Steinriesen nicht vorstellen. Jeder von ihnen erhoffte sich eine Antwort vom wachenden Weisen, bevor er sie verlassen würde.

      Unter den vielen Bittstellern befand sich auch ein junger Mann. Er kam von weither, um den Berg zu sehen. Aber anders als alle anderen war er nicht hier, um Aikarupata etwas zu fragen, sondern um ihm seinen Respekt zu zollen. Seine Mutter wuchs am Fuß des Berges auf, weshalb sie unzählige Legenden über Aikarupata kannte. Die Geschichten, die seine Mutter ihm erzählt hatte, waren dem jungen Mann heilig. Durch viele schwierige Entscheidungen seines Lebens hatten sie ihn geführt und große Träume in ihm geweckt. Deshalb war er gekommen, um dem Berg seine Dankbarkeit für dessen Vermächtnis auszudrücken. Denn ohne diese Geschichten wäre er heute nicht der, der er ist.

      Mit nichts weiter als seiner Kleidung, einem Messer und seiner Flöte war er losgezogen. Während des ganzen Weges hierher hatte er sich den Kopf zerbrochen, wie man sich wohl am besten bei einem Berg wie Aikarupata bedanken konnte.

      Als er schließlich zu dessen Füßen stand, war er so

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