Das Kartell der Skorpione. Mario Monteiro

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Das Kartell der Skorpione - Mario Monteiro

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Begeisterung und erschütternder Tragik hat dich, den ›Carioca‹ als Menschen dieser Stadt durch fünf Jahrhunderte begleitet.

      Mit wuchtigen Granitblöcken fing es an. Stein auf Stein zu einer Festung vermauert, 1567 vollendet, überdauerte das Fort fast ein halbes Jahrtausend, Wacht und Schutz der schicksalhaften Bucht der Guanabara, einst eingebettet in dichten, undurchdringlichen Urwald, unangreifbare Basis portugiesischen Unternehmungsgeistes in einer rauen Welt.

      Zucker war es jahrzehntelang, der von dort aus kommend, das Leben der Alten Welt versüßte. 200 Jahre später war es das Gold. Magisches Minas Gerais! Fregatte auf Fregatte schuf den Reichtum europäischer Könige und Kaiser, turmhoch wucherndes Wachstum finanzieller Interessen, gepaart mit Machthunger am Hof von Lissabon.

      Eingeschnürt zwischen Dschungelmauern und der befreienden Küste der See trafen sich Abenteurer und Spekulanten, ehrgeizige Emporkömmlinge und lebenshungrige Europäer zu Begegnungen, deren Wurzeln Jahrhunderte überdauerte.

      Generation auf Generation, sich Jubel und nicht zu übertreffender Lebenslust an der erfrischenden Brise des Atlantiks hingebend, verdrängten sie Tausende in die Fron Gezwungener, aufgegangene Saat Millionen Verarmter, in die gebirgige Wildnis, rund um die Bucht. Das ist nun 450 Jahre her. Längst sind die vom Urwald überwucherten Berge abgeholzt. Sintflutartige Wolkenbrüche haben die Favelas von Rio, Elendsquartiere am Abgrund ausgewaschener Steilhänge heimgesucht, haben sie im Schlamm von Not und Hoffnungslosigkeit begraben.

      Und dennoch. Ein hinreißendes Panorama breitet sich vor dem Auge des Fremden aus, von woher er sich der Stadt auch nähern möge. Herrliches, einmaliges Rio! Nur unter der unbarmherzigen Lupe des kühlen Beobachters stellt es sich weniger beeindruckend dar, oft genug mit erschreckender Grausamkeit. Wie ein halbes Jahrtausend zuvor erholen sich Reiche wie mäßig Begüterte, von brennender Tropensonne versengt in der Brandung, verbringen üppig bemessene Zeit auf belanglosen Cocktailparties, bei abgestandenem Tratsch auf Empfängen und Cocktailparties.

      Ob es um den Skandal des Monats geht oder ob eine Mammuterbschaft die Gemüter erhitzt, ob Börsenkurse in den Keller stürzen oder steil nach oben schießen, der letzte Schrei Pariser Mode – alles ist ›in‹.

      Und kaum ein paar tausend Meter abseits prächtiger Strandpromenaden, der Galavorstellungen und glänzender Hotelpaläste stößt der Entdecker oft auf Unerwartetes, verliert sich in Regionen des Elends, trifft auf Menschen, die nie teilnahmen an der stürmischen Entwicklung der Stadt. Am Abgrund des Existenzminimums vegetierend, fristen sie ihr Dasein noch immer dort droben, auf den ›Morros‹ von Rio, in verwirrendem Auf und Ab zwischen Zuckerhut und Corcovado.

      Und wie viele der weniger Begünstigten, Hunderttausende, Namenlose, zwischen Luxusstränden und Favelas durchs Leben irrend, vielleicht morgen schon abgleitend in die Finsternis der Armut, hetzen hinter trügerischem Glück her, den Blick nach vorne gerichtet, um ungeachtet der anzuwendenden Mittel Barrieren zu überrennen, die sich der Gier nach Wohlstand und vermeintlichem Glück entgegenstellen könnten. Sie alle sind die Figuren dieser Geschichte. Möge der Leser entscheiden zwischen Recht und Unrecht, zwischen Triumph und lebenslanger Verdammnis, zwischen Paradies und Hölle. Voilà! Die Stadt am Zuckerhut!

      Pardon, was ich nicht vergessen will. Nicht die nervenaufpeitschende, erregend im Strudel von tausend Gefahren dahin treibende Weltstadt ist es, die mich aufgesogen hätte. Die Menschen sind es, immer wieder Menschen, denen ich dort begegnete.

      Was ich erlebte auf Höhen menschlichen Glücks, an Abgründen des Leids für den Einzelnen, das war es, was mich nicht ruhen ließ, und mich bewegte, diese Geschichte aufzuschreiben.

      Die Leuchtspur sprang im Zweisekundentakt über den dunkelgrünen Tachometer. Der Fahrer zwang sich, nicht ständig auf die Uhr zu schielen. Als der Cadillac am Tunnel ankam, war es vierzehn vor neun. Und Punkt halb zehn sollten sie am Flughafen sein. Halb zehn, überlegte der Fahrer. Sie werden es gerade noch schaffen. Der heruntergekommene Lieferwagen, der die ganze Zeit auf Zentimeterdistanz hinter ihnen hergefahren war, schien am Ende doch noch vernünftig geworden zu sein. Plötzlich hielt er einen ganz annehmbaren Abstand ein.

      Jorge Berenguer ärgerte sich über seinen eigenen Verstand. Und überhaupt. Weshalb rieb er sich schon wieder in den Augen? Er hatte doch fantastisch durchgeschlafen. Im Lichtkegel des rechten Scheinwerfers huschten fingerbreite Risse vorbei, wie Spinnenbeine auf grauschwarzem Beton, aus dem Grundwasser sickerte.

      Sein Boss im Fond hatte die druckfrische Morgenausgabe der ›Gazeta Mercantil‹ zur Seite gelegt und entschied sich dafür, nicht weiterzulesen. Das Licht im Tunnel war nicht das Beste und dazu flackerte es ständig in den Röhren.

      Anthony McGooley besah seine Schuhspitzen und überschlug die Zeit. Er konnte sich ohnehin ausmalen, auf wen es der für seine Polemik bekannte Wirtschaftsjournalist dieses Mal abgesehen hatte. Dezember 2. 010! Fast vier Jahre saß McGooley schon wieder hier. Drei Jahre höchstens, hatten sie in New York damals versprochen. Nur bis alles richtig liefe. Und dabei blieb es dann. McGooley presste die Lippen zusammen. Eines Tages werden sie ihn vielleicht ins Headquarter holen. Oder Kollege Bronson wird endlich torpediert und sie werden ihm das Eurocenter in Rotterdam übertragen. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

      Zukunftsvisionen! Dabei verblassten selbst jene unmissverständlichen Drohungen, die ihm anfangs der Woche die Farbe aus dem Gesicht getrieben hatten. Bis er damit begann, die Gewitterwolken zu verdrängen und nichts mehr ernst zu nehmen. Prompt ließ auch das bohrende Gefühl im Magen nach und bald darauf lächelte er in sein eigenes Gesicht. Jedes Mal, wenn er vor dem Spiegel stand.

      Stahlhart und unnachgiebig war er noch immer mit allen Hindernissen fertiggeworden. Und selbst die Kassandrarufe, die sich auf der heutigen Titelseite bis zur letzten Zeile hinzogen, konnten ihm nur ein müdes Lächeln entlocken. Also gab ihm seine eigene Unternehmenspolitik, die er vor dem Board verteidigte, in allen Punkten recht. Und genau das wird er auch den Herren in Buenos Aires gleich nach der Landung auseinandersetzen.

      Weder der unruhige, stoßweise Atem seines Fahrers noch das ungewohnte Zucken der Nackenmuskulatur und die Art, in der sich Jorges Finger im Steuer verkrallten, war dem Präsidenten der American Viamac do Brasil zunächst aufgefallen. Und als der Manager, einem Zufall gehorchend, durch die Windschutzscheibe starrte, war es bereits zu spät. Jäh fuhr seine Hand in die Lederschlaufe. Und hoffend, den unvermeidlichen Stoß in seiner Wirbelsäule noch abzufangen, stemmte er sich mit beiden Füßen gegen den stählernen Sockel des Vordersitzes.

      Der Fahrer unterdrückte einen leisen Fluch. Warum musste dieser Idiot da vorne mit seinem elenden Vehikel so plötzlich stoppen? Und das ausgerechnet hier, mitten im Tunnel! Wieso eigentlich? Es gab doch keinen Grund dazu, wenigstens soweit es McGooley vom Fond des Wagens aus beurteilen konnte.

      ... peng! Die Stoßstange des Cadillacs zertrümmerte das Heck der verrosteten Kiste.

      »Auf den Schrottplatz mit dir!«, fluchte Jorge. Nicht einmal die Bremsleuchten funktionierten bei dem Kerl. Und total abgefahrene Reifen, soweit es von hier aus zu beurteilen war. Selbst ein so gerissener Fahrer wie Jorge hätte nicht die geringste Chance gehabt, den Aufprall im letzten Moment doch noch zu verhindern. Wütend zunächst, und dann schreckgelähmt starrte er durch das halb offene Fenster in den Außenspiegel.

      Zum Donnerwetter! Warum reagierte diese verdammte Schlafmütze nicht. Der blödsinnige Lieferwagen hinter ihm musste doch stockvoll ... »Mensch hau auf die Bremse!«

      In Jorges Hirn zuckte es. Zurückstoßen! Ausscheren! Und nichts wie raus hier! Im gleichen Moment sah er die Sinnlosigkeit ein. Mit diesem Kahn und in den paar Sekunden, die ihm jetzt noch blieben, mitten drin in dieser elenden Betonröhre.

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