Der frühe Marx und die Revolution. Peter Trawny
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So auch Marx. Denn er, den ich als Philosophen bezeichnen möchte, was keine Selbstverständlichkeit ist – wie ich Ihnen noch zeigen werde –, hat in der freien Tätigkeit des Reflektierens und Denkens das Leben und seine realen Ansprüche hinter sich gelassen. Und das sogar im besonderen Sinne, denn Marx war niemals ein Professor, er hat an keiner Universität oder Schule gelehrt. Er hat ganz offenbar die Philosophie nicht als ein Metier aufgefasst, mit dem man sein Überleben fristen kann. Marx’ Denken im Kontext seines Lebens zu betrachten, scheint einer essentiellen Motivation des Philosophierens, den Anspruch des Lebens auf die bedeutungslose Befriedigung der Bedürfnisse zu beschränken, zu widersprechen.
Doch so einfach ist die Sache nicht. Der Biograph Jonathan Sperber behauptet, dass es zwischen Marx’ Ideen und seinem Leben einen Zusammenhang gibt. Er sagt darüber hinaus, dass diese Ideen nur zu verstehen seien, wenn das Verhältnis von Denken und Leben berücksichtigt wird. So gesehen scheint es also eine Verflechtung von Philosophie und Leben, ja von Philosophie und Überleben zu geben, die in der Tätigkeit des Philosophierens selbst sich niederschlägt. Leben und Überleben zeigen sich im, ja als Denken.
Ein Zeitgenosse von Karl Marx, Friedrich Nietzsche, hat vielleicht als erster auf das Verhältnis von Biographie und Philosophie hingewiesen. Er sagt in »Jenseits von Gut und Böse« (1886), dass es beim »Philosophen ganz und gar nichts Unpersönliches« gebe.3 Das ist keine Nebenbemerkung. Nietzsche spricht von einer »Psychologie« als einer »Morphologie und Entwicklungslehre des Willens zur Macht«, wonach das, »was bisher geschrieben wurde, ein Symptom von dem« sei, »was bisher verschwiegen wurde«.4 Das bedeutet, dass es in den philosophischen Texten etwas gibt, worüber die Philosophen nicht reden, was sie »verschweigen«. Und das Geschriebene sei ein »Symptom«; etwas, was mit einem anderen erscheint, mit ihm zusammenfällt, dieses andere anzeigt, aber nicht dieses andere ist. Das heißt aber, dass dieses andere, das sich nicht zeigt, das verschwiegen wird, durch das Symptom zugänglich wird. Das, was nach Nietzsche von den Philosophen verschwiegen wird, sei der »Wille zur Macht«. Die Philosophen wollen Macht, sie wollen mit Macht z. B. Gesetze geben, sie wollen Einfluss, Bedeutung, Erfolg. Sie verschweigen das aber, weil es als schlecht und böse betrachtet wird.
Ich halte diese Psychologie für nicht sehr weitreichend, was aber nicht heißt, dass ich überhaupt die Psychologie oder Psychoanalyse in Bezug auf die Philosophie für abwegig halte. Im Gegenteil, wenn das Philosophieren aus einer bestimmten Motivation kommt, die etwas mit der Lebenserfahrung des Philosophen – mit seinem Überleben – zu tun hat, dann kann auch die Psychologie etwas dazu sagen. Allerdings ist die Psychologie eben ein spezifischer Diskurs, den ich, als Philosoph, nicht beherrsche. Daher werde ich bei der Philosophie bleiben.
(Übrigens: Marx wird 1818 in Trier geboren, stirbt 1883 in London; Nietzsche wird 1844 in Röcken bei Naumburg geboren, stirbt 1900 in Weimar. Bemerkenswert: Sie sind sich niemals begegnet, haben sich niemals einen Brief geschrieben, haben in ihren Werken niemals den Namen des anderen erwähnt – haben sie sich also nicht gekannt? Das ist im Falle Nietzsches wohl kaum möglich, da er sich zuweilen zum »Sozialismus« und über die »Kommunisten« äußert, ohne sich jemals ausdrücklich auf Marx (oder Engels) zu beziehen. Bei Marx gibt es nichts, was darauf schließen lässt, dass er Nietzsche gekannt hätte. Man stelle sich das einmal vor: Das wäre beinahe so, als würden heute Peter Sloterdijk und Richard David Precht nichts voneinander gehört haben – ich halte übrigens den einen, Sloterdijk, für einen Philosophen, den anderen eher nicht. Die medial organisierte Öffentlichkeit zur Zeit von Marx und Nietzsche – in der »industriellen Revolution« – stand erst am Anfang ihrer Entwicklung, ließ einem diese Freiräume der Ignoranz; sie war noch nicht von wichtigen und überflüssigen Informationen angefüllt wie heute. Ich verweise darauf, damit Sie einen Eindruck vom Unterschied des 19. Jahrhunderts zum 20. und 21. Jahrhundert bekommen.)
Worum es mir zunächst geht, ist, festzuhalten, dass das Philosophieren einen lebensgeschichtlichen Hintergrund hat, dass also ein »unpersönliches« Philosophieren letztlich unmöglich ist. Aber man muss das Problem der Lebenserfahrung anders fassen als so, dass man sagt: hier ist die Lebenserfahrung und daraus kommt irgendwie – gar noch kausal-determiniert die Motivation zur Philosophie. Es gibt vielmehr eine wechselseitige Beziehung zwischen Philosophie und Leben. Die Lebenserfahrung steht schon im Einfluss der Philosophie, so wie die Biographie dann auch das Philosophieren mitbestimmt. Philosophie und Leben bilden so etwas wie eine Symbiose. Das Verhältnis des Philosophen zur Philosophie ist nicht biographisch, sondern sozusagen sym-bio-graphisch.
Wenn also der Biograph Sperber über Marx sagt, dass man Marxens Leben berücksichtigen müsse, um dessen Gedanken zu verstehen, dann muss man sehen, dass das Leben selbst schon von Gedanken beeinflusst ist. Ich könnte daher sagen: um Marxens Leben zu verstehen, muss man sich (auch) seine Gedanken anschauen.5 Und das ist das, was ich hier vor allem tun werde. Zugleich werde ich im Auge behalten, wie sich Marx’ Biographie gestaltet hat, denn diese steht tatsächlich im Schatten seines Denkens.
(Ich möchte hier kurz bemerken, dass der Begriff des »Lebens« mindestens zweideutig ist. Einerseits lässt er sich als das organische Leben (zoé) fassen, andererseits als das sich in einer individuellen Geschichte manifestierende Leben (bíos). Eine Biographie erfasst demnach nicht ein biologisches Geschehen, sondern ein persönliches. Doch auch das ist nicht so einfach. Das Leben als Überleben, das Leben in seiner organischen Gestalt, greift aufs intellektuelle Leben über. Gerade Marx wird uns dieses Übergriffige des Lebens erläutern.)
Marx wurde am 5. Mai 1818 als drittes Kind des Rechtsanwalts Heinrich Marx und seiner Frau Henriette in Trier geboren. Die Marxens lebten eine sehr aufgeklärte Form des Judentums, waren eine alteingesessene und mehr oder weniger wohlhabende jüdische Familie (der Vater konvertiert übrigens zum Protestantismus). Das ist deshalb bemerkenswert, weil ich mich mit dem Text Zur Judenfrage von Marx noch beschäftigen werde, einem berühmtberüchtigten Text, den man wohl als antisemitisch bezeichnen muss, wobei dann genauer zu sagen sein wird, inwiefern dieser Text antisemitisch ist.
Im Jahr 1835 geht Marx nach Bonn, um Jura zu studieren.6 Das sieht natürlich so aus und muss auch so gesehen werden, als dass der Sohn Marx hier das tut, was der Vater bereits tat. All das ist mehr oder weniger unauffälliges, gewöhnliches Leben. Das Auffälligste ist wohl die Liebesgeschichte mit Jenny von Westphalen, die Marx nach langem Hin und Her heiratete; sie sollte Marx sieben Kinder gebären, von denen nur drei Töchter überlebten, die allerdings auch wiederum eher schwierige Lebenswege hatten. (Diese Liebesgeschichte wird in dem neuen Film Der junge Marx ausführlich behandelt.) Übrigens war Marx in seiner Ehe ein zuhöchst bourgeoiser Typ, Patriarch, zuweilen wohl sogar Despot. Jenny Marx begleitete ihren Mann durch alle Schwierigkeiten, die sich aus seinem Denken ergaben.
Nach einem Jahr in Bonn, in dem er offenbar mehr oder weniger durch Saufen und Randalieren auffiel, wechselte Marx nach Berlin (zur heutigen Humboldt-Universität), um bei dem Hegelianer Eduard Gans Vorlesungen zu hören. Hegel war dort 1831 an den Folgen der Cholera gestorben. Sein Denken war noch aktuell. Man kann sagen, dass Marx’ Schritt nach Berlin den Anfang seiner philosophischen Biographie bedeutete. Denn mit Hegel, vor allem mit dessen Rechtsphilosophie, wird sich Marx intensiv beschäftigen. Das ist eine Quelle des Marx’schen Denkens, doch nicht die einzige. Ich werde mich ein wenig dabei aufhalten.
Hegel war ein akademisches Ereignis ersten Ranges. Er machte Berlin zum europäischen Zentrum der »Wissenschaft« im Sinne Hegels;