Rüpel und Rebell. Hannelore Schlaffer
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Rüpel und Rebell - Hannelore Schlaffer страница 2
Nicht nur die spektakulären politischen Ereignisse sind es, die ihn zur Kritik reizen; er ist aufmerksam immer und überall, er beobachtet alles und tut es voller Misstrauen: den Alltag, die Glaubenssätze, Sitten und Tabus. Er versteht sich als Wahrheitssucher und steigert diese Aufgabe bis zum Fanatismus. Er postiert sich am Rande der Gesellschaft, und diese, sei sie nun aristokratisch oder bürgerlich, schätzt ihn als einen, der zu denken wagt, was ihr Praxis und Sitte zu tun nicht erlauben. Da er prüft, was möglich wäre, erweitert er ihr Bewusstsein. Als Kritiker ärgert er, als Erfinder neuer Lebensstile und Freiheiten wird er geschätzt. Der Intellektuelle spricht aus dem Aparte und ermöglicht ein apartes Denken. Er ist Hofnarr und Missionar der Gesellschaft, die ihn aufnimmt, und ein notwendiges Ferment ihrer Aufklärung.
Der Denker und Redner aus dem Abseits richtet seine Kritik immer gegen das andere und die anderen, sich selbst setzt er absolut. Daher kann sein Auf tritt nicht anders denn als Provokation empfunden werden. Um die Nicht-Normalität seiner Perspektive deutlich zu machen, übertreibt der Intellektuelle: Er ist Besserwisser, Spötter, Verächter, Schwadroneur, Stadtstreicher, Schlamper – arrogant inszeniert er so die Satire des höfischen oder bürgerlichen Lebens.
Der Intellektuelle lässt sich besser fassen in seinem Lebensstil als durch sein Programm, denn er hat keines. Seine Absicht ist es zu prüfen, nicht zu handeln, das höchste Ziel dieses Misanthropen ist Menschenkenntnis. Und wie der Mensch sich historisch ändert, so ändern sich auch Kritik und Vorschläge des Intellektuellen. Alle Abhandlungen über den Intellektuellen leiden darunter, dass sie ihn aufs Wort festlegen und den Stil, das eigentliche Kampfmittel dessen, der sich eine andere Art von Mensch ausdenkt, übersehen.
Seine Meinungen also wandeln sich, konstant bleiben Charakter und Benehmen. Diese hatten denn auch im Laufe der Geschichte des Intellektuellen, die hier verfolgt wird – von der Französischen Revolution an bis heute –, eine nachhaltigere Wirkung als die gelegentlichen Verkündigungen, die er von sich gab.
Die »Erfolgsgeschichte des Intellektuellen« ist eine des schlechten Benehmens und hat nur dem Anschein nach Züge einer historischen Abhandlung. Eigentlich ist sie eine Grabrede. Als solche sammelt sie Episoden aus dem Leben des Dahingegangenen, ihn zu rühmen und die Hinterbliebenen zu rühren. Im Falle des intellektuellen Rüpels entsteht das Bild eines Melancholikers, der es sich wohl sein ließ, indem er alle verspottete und allen gefiel.
Inzwischen scheint es ein müßiges Unterfangen zu sein, diesen Charakter zu beschreiben, denn wo überhaupt gäbe es ihn noch? Wo auf der Straße der Mann mit der Zeitung unterm Arm fehlt, gibt es keinen Intellektuellen mehr; und wo im Theater fast jeder in Jeans erscheint, hat der Kritiker des bürgerlichen Dünkels seine Pflicht getan und kann gehen. Heute spielt jeder den Rüpel und Rebellen – es gibt ihrer zu viele und nur in diesem Sinne keinen Intellektuellen mehr, der sich als Einzelgänger verstand: Schlampig zum Beispiel heißt jetzt pflegeleicht, Unkeuschheit sexuelle Befreiung, Widerspruch gilt als Bürgerbeteiligung, Ungehorsam als Emanzipation, Wankelmut heißt Sich-neu-Erfinden.
Die Geschichte des schlechten Benehmens, wie es der Intellektuelle einführt, ist die Vorgeschichte des Privatmannes von heute in der Öffentlichkeit, sie ist eine Beschreibung der Tradition, aus der er die Regeln seines Auftritts bezieht. Rüpel und Rebell, die Ausgeburten der Französischen Revolution, blühen jetzt erst so richtig auf. Als Randfigur fühlt sich heute jeder, jeder kann und darf Apartes denken.
Die Orte der Kritik haben sich geändert. Sie findet nicht mehr im Salon statt, wo sie begann, nicht mehr in der Zeitung, wo sie sich fortsetzte, indem dort die Intellektuellen den Bourgeois und sich selbst untereinander beschimpften. Wo gäbe es noch Leute, die sich über Zeitungsartikel, über Redakteure und ihre Meinungen in die Haare bekämen? Wo wäre die Straße, auf der der Flaneur mit »seinem Blatt« unterm Arm großtut? Sie starben gemeinsam: die urbane Stadt, der Flaneur und der Intellektuelle – dieser allerdings erlebt heute seine Auferstehung als Eventist des Denkens und Genießens. Wie sieht er aus, welche Funktion hat er in der Gesellschaft heute?
Rameaus Neffen
Jean-François Rameau
Jene Figur, die durch Räsonnement, Zynismus, Spott und Verachtung der untergehenden Aristokratie den Spiegel vorhielt und der siegenden Bourgeoisie zur Selbstreflexion verhalf, existierte literarisch lange schon, ehe überhaupt der Kampf der Klassen – des Bürgertums gegen den Adel – begann. Diderot hat die Rolle zwischen 1761 und 1774 entworfen und ihr in seinem Dialog »Rameaus Neffe« einen ersten Auftritt verschafft. Der Autor hat den Text nie publiziert – auch in Frankreich wurde er erst durch die Rückübertragung aus Goethes Übersetzung bekannt –, und er mag seine Gründe gehabt haben. Die Figur trifft die Wirklichkeit der politisch-philosophischen Auseinandersetzung in jenem revolutionären Jahrhundert viel zu genau, die Personen, die dem Autor Modell standen, sind zu lebensecht, als dass Diderot das Porträt hätte publizieren wollen. Der Neffe ist eine Fiktion, die die Wirklichkeit schuf und die über Jahrhunderte hinweg immer wieder in neuen Varianten anzutreffen sein wird.
In »Rameaus Neffe« stehen zwei Figuren einander gegenüber, der »Philosoph«, ein bedächtiger Denker, und der ebenso verkommene wie geistreiche Neffe Rameaus. In diesen Figuren trifft die Philosophie als Gedanke auf die Philosophie als Lebensstil – und nur beide zusammen ergeben jenen gesellschaftlichen Akteur, für den das 19. Jahrhundert schließlich den Titel »Intellektueller« fand, der zu Diderots Zeit noch den wohlklingenderen Namen le philosophe trug.
Diderots philosophe und der Neffe gehören zusammen wie das »Ja – Aber …« von Behauptung und Zweifel, die fortan im Kopf des Intellektuellen miteinander streiten werden. Allerdings dominiert der Neffe, ein Rüpel und Rebell, den Dialog, und zwar deshalb, weil er eine Schau bietet, die den späteren Auftritt des Intellektuellen als Stadtstreicher oder Caféhausliterat vorwegnimmt. Intellektualität ist der Widerspruch gegen die gesellschaftliche Normalität, der sich als Schauspiel zelebriert. Die Ideengeschichte des Intellektuellen bedarf daher der Ergänzung durch eine Körpergeschichte, welche Haltung, Geste, Kleid als optische Zeichen von Intelligenz und Kritik durchschaut und anerkennt.
Die Figur, die körperlich mit dem Geist umgeht, ist eine Erfindung der Aufklärung. Ihr Publikum war die aristokratische Gesellschaft des Ancien Régime. Deren Hang zu Repräsentation und Theater mag es gewesen sein, was den kritischen Geist zur optischen Darstellung seiner Ideen und zur gestischen Provokation veranlasste. In jedem Intellektuellen ist ein Stück Aristokratie auf bewahrt, und dies Erbe bleibt ihm, auch wenn er aus dem ursprünglichen Ambiente heraus- und in die bürgerliche Gesellschaft eintritt.
Ehe Diderot den Dialog beginnen lässt, gibt er in einer Art Regieanweisung Auskunft über Gestalt und Kostüm des Neffen:
»Es ist eine Zusammensetzung von Hochsinn und Niederträchtigkeit, von Menschenverstand und Unsinn, die Begriffe vom Ehrbaren und Unehrbaren müssen ganz wunderbar in seinem Kopf durch einander gehn: denn er zeigt, was ihm die Natur an guten Eigenschaften gegeben hat, ohne Prahlerei, und was sie ihm an schlechten gab, ohne Scham. Übrigens ist er von einem festen Körperbau, einer außerordentlichen Einbildungskraft und einer ungewöhnlichen Lungenstärke. (…) Heute, mit schmutziger Wäsche, mit zerrissenen Hosen, in Lumpen gekleidet und fast ohne Schuhe, geht er mit gebeugtem Haupte, entzieht sich den Begegnenden, man möchte ihn anrufen, ihm Almosen zu geben. Morgen, gepudert, chaussiert, frisiert, wohl angezogen, trägt er den Kopf hoch, er zeigt sich, und ihr würdet ihn beinah für einen ordentlichen Menschen halten. (…) Bald erreicht er zu Fuß ein kleines Dachstübchen (…). Bald wirft er sich in eine Schenke der Vorstadt, wo er den Tag zwischen einem Stück Brot und Kruge Bier erwartet. Hat er denn auch die sechs Sous zum Schlafgeld nicht in der Tasche, (…) so wendet er sich an einen Mietkutscher, seinen Freund, oder an den Kutscher eines großen Herrn,