Rüpel und Rebell. Hannelore Schlaffer

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Rüpel und Rebell - Hannelore Schlaffer

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ist nicht nur eitel, sondern kreativ, nicht nur zynisch, sondern schöpferisch, kurz: Er stellt sich nicht als Sonderling, sondern als Künstler und Philosoph vor. Das »empörte Selbstbewusstsein«, das er repräsentiert, umgreift und begreift alle Bereiche von Kultur, Kunst, Politik und Wissenschaft, soweit sie allgemein und gesellschaftlich von Belang sind. Nicht zu urteilen über ein augenblickliches Verhalten, ist des Neffen Absicht; er zielt auf den Streit, den Diskurs, seine Frechheit regt die Diskussion an, der Spott die Kritik.

      Paris war bevölkert von solchen Figuren, die durch die Cafés streunten, Anschluss an die aristokratische Gesellschaft suchten, Pamphlete schrieben und sich gegenseitig bekriegten. Charles Palissot spricht in seinen »Petites lettres sur de grands philosophes« von »insectes philosophiques«, von Philosopheninsekten, die Paris heimgesucht hätten. Die Menge derer, die von der Kritik zu leben hofften, nannte man »aventuriers«. Das Abenteuer dieser »hommes de lettres« ist das Schreiben, und zwar nicht von großen Werken, sondern von polemischen Schriften, die widerlegen wollen und widerlegbar sind, angreifen und angegriffen werden können. Die intellektuellen Aventuriers tun, was sie von Diogenes oder Menippos gelernt haben, der, wie Werner von Koppenfels in seinem Buch »Der andere Blick« erkennt, »die philosophische Wahrheitssuche mit einem gleichsam journalistischen Sinn für Aktualität zu vereinen« wusste. Das Feuilleton ist denn auch die Gattung dieser Leute, die Tagesthemen verhandeln; und erst die Zeitung hat diesen Typus, diese Melange aus denkendem Stadtstreicher und zynischem Menschenkenner, hervorgebracht. Diderot selbst prägte den Begriff für das Genre, das er und seinesgleichen von nun an belieferten. Die Feinde der »Encyclopédie«, die in verschiedenen Zeitschriften gegen ihn und seine Freunde polemisierten, bezeichnete er verächtlich als »feuillistes«. Die Presse hat aus dem redenden einen schreibenden Diogenes gemacht.

      Die geographische Enge des Raumes, auf dem sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das intellektuelle Leben Frankreichs abspielte – zu allen Zeiten nimmt Frankreichs Geschichte ihren Ausgang von den wenigen Quadratkilometern um die Île de la Cité –, macht es wahrscheinlich, dass Diderots unveröffentlichte Satire »Le neveu de Rameau« in Paris unter Freunden und in Salons kursierte. Rousseau könnte davon gehört haben. Rousseaus »Bekenntnisse« machen aus Diderots Bozzetto des Neffen eine Statue, die von nun an den Typus »moderner Intellektueller« repräsentiert. An jenem Rousseau, den die Nachwelt kennt, haben Rousseau und Diderot gearbeitet.

      Nachleben

      Hat sich diese Figur seit dem Entwurf von Diderot und Rousseau weiterentwickelt? Wie alt ist sie geworden, wie lang hat sie gelebt, lebt sie noch?

      »Die Blechtrommel«, Günter Grass’ Roman von 1951, versammelt im Düsseldorfer »Zwiebelkeller« all jene Eitlen, die es in der prosperierenden Bundesrepublik der Nachkriegsjahre für eine Ehre hielten, als Intellektuelle zu gelten: »Die Gäste: Geschäftsleute, Ärzte, Anwälte, Künstler, auch Bühnenkünstler, Journalisten, Leute vom Film, bekannte Sportler, auch höhere Beamte der Landesregierung und Stadtverwaltung, kurz, alle, die sich heutzutage Intellektuelle nennen, saßen (…) auf rupfenbespannten Kissen und unterhielten sich, solange Schmuh [der Gastwirt, »ein guter Schütze, womöglich auch ein guter Mensch«] noch nicht den Shawl mit den goldgelben Zwiebeln trug, gedämpft, eher mühsam, beinahe bedrückt.« Die Besucher des Zwiebelkellers hätte man im 19. Jahrhundert nicht mit dem Titel »Intellektueller« ausgezeichnet. Eher entsprachen sie Leuten, gegen die sich der intellektuelle Affront richtete. Wie schon in der französischen Aristokratie, so war auch im Bürgertum der Nachkriegszeit der mürrische Protest gegen den bürgerlichen Alltag Mode geworden; selbst wer für den reibungslosen Fortgang dieses Alltags zu bürgen hatte, wollte zumindest am Feierabend ein wenig als Rebell anerkannt sein.

      Die fortschrittlichen Ideen des 18. Jahrhunderts sind Grundlagen unseres Denkens geworden: Gleichheit, Toleranz, Meinungsfreiheit. Diese »Haltung« übten und üben die Bürger in ihrer »Genieepoche«, der Jugend, ein. Jahrzehnte nach der Studentenbewegung, diesen letzten öffentlichen Flegeljahren, wurde die Imitatio des Intellektuellen zu einem Massenphänomen. Die Mission des politischen Intellektuellen war teilweise erfüllt, teilweise gescheitert, die Kleidung aber als modisches Kürzel des aufständischen Geistes wurde zum kollektiven Stil. Den Clochard bewunderte der Reisende der sechziger Jahre auf den Pariser Straßen als poetisches Relikt der antibürgerlichen Provokation. Die Ideen des Rebellen zwar waren vergessen oder alltäglich geworden, sein Kleid jedoch trug der Clochard und ließ sich darin bestaunen. Nicht zufällig gefiel Jean Gabin in der Rolle des Stadtstreichers in dem Film »Archimède, le clochard«, weil dieser Heruntergekommene schlau genug ist, den Ordnungshütern ein Schnippchen zu schlagen und ihre Vorschriften zu seinem Vorteil zu nutzen. Man muss sich den Intellektuellen, diesen Modeschöpfer einer Gesellschaft ohne Statussymbole, in einigen Exemplaren vorstellen, um zu bemerken und sich bewusst zu machen, wie viele seiner Art heute auf den Straßen der Citys den Diogenes, den Jean-Jacques, den Henri Murger, Erich Mühsam und Wolf Biermann spielen.

      Heute teilt sich der Stundenplan der City auf in diogenische Phasen, die dem Freizeitbürger gehören, und in solche, in denen sich zu ihm der Geschäftstüchtige im gut sitzenden Herrenanzug gesellt – das ist die Zeit vor und nach der Arbeit und die Stunde der Mittagspause. Die Outdoorkleidung des Stadtbesuchers hätte Diogenes gefallen, sogar die wetterfesten Stoffe und die Thermojacke hätte er in seinem Griechenland, das auch kalte Tage kannte, brauchen können. Fleece- oder Soft-Shell-Jacken, Zipp-off-Hosen, Baggys und Schlupfbund-Bermudas, die die Schönheit des männlichen Beins, T-Shirts, die die Hässlichkeit des männlichen Bauches entblößen, wären ganz nach seinem Geschmack gewesen, sie sind formlos wie sein zerschlissener Mantel, und auch die Sneakers, so breitgetreten, dass ein Gang entsteht, dem alle Ziererei fremd ist. Cargohosen gar, in denen sich viel unterbringen lässt, entsprechen der Ubiquität des streunenden Philosophen, der omnia sua secum portat. In den achtziger Jahren war, wie heute der Rucksack, die Umhängetasche – unverzichtbares Attribut des Diogenes – Mode geworden auch bei Männern, die darin den survival kit für ihren Stadtausflug verstauten.

      Der Diogenes des 21. Jahrhunderts braucht mehr als etwas Sonne und einen Mantel, er braucht auch Informationen, Gespräche mit Freunden und, da ihn nicht mehr, wie den Neffen Rameaus, ein Mäzen nährt, Zugang zu einem sofort abrufbaren Bankkonto – das alles trägt er mit sich herum, sobald er über die digitale Ausrüstung verfügt. Kein Stammcafé muss mehr für ihn die Zeitung abonnieren, neueste Nachrichten bezieht er vom Smartphone, seine Freunde trifft er telefonisch allerorten. Obgleich dieser neue Aufklärer von Informationen abhängig bleibt, darf er sich so unabhängig fühlen wie der zynische Philosoph, der omnia sua auf ein Minimum reduziert hat. Neben dem PC verstaut er in der Umhängetasche eine Wasserflasche, die er so gern vorzeigt wie Diogenes seinen Becher. Trinkend sitzt er auf den Treppen der Innenstadt und schaut, in gut zynischer Tradition, auf seine Mitbürger herab, allerdings sind nun auch sie so leger gekleidet wie Diogenes oder Rameaus Neffe. Die Omnipräsenz des menschlichen Körpers in der Stadt, als Fett unter den Falten bügelfreier Stoffe, als nackte Haut, folgt dem Wahrheitsappell des Diogenes, der in allem auf die Natürlichkeit unserer Abkunft verwies. Die zynische Wahrheitsliebe allerdings hat in der City ihre Grenze in der Hygiene. Pissen sollte Diogenes hier auf keinen Fall, seinen Kaugummi ausspucken und Bier auf die Platten gießen darf er wohl. Erlaubt ist, was sich putzen lässt und nicht krank macht.

      Diogenes’ Wirkung reicht, auch was Aussehen und Benehmen betrifft, bis in die Gegenwart. Die Besucher der City sind seine verspätete Jüngerschaft – Diogenes en masse! Diderot, Rousseau, Goethe haben seinen Stil dem modernen Europa übermittelt, sie haben eine Provokation einstudiert, die schließlich zum Alltagsgebaren der Bürger werden sollte.

      Der Vergleich zwischen Antike und Gegenwart mag sich spaßig ausnehmen, willkürlich ist er nicht. Was Diogenes wollte und die Enzyklopädisten zum Programm entwickelten, Gleichheit, Freiheit, Natürlichkeit, gesundes Leben, ist zum allgemeinen Ziel und Stil geworden; die Aufklärung hat jeden erreicht, und jeder trägt ihr Kleid. Der Freizeitbürger imitiert gelassen das Schauspiel, das seit Diogenes und Diderot zur Aufklärung gehört. Die

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