Die Brücke, die ihr Gewicht in Gold wert war. Wolfgang Teltscher
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Wie schön es hier ist, freute er sich, wie schön, dass ich hier wohnen darf.
War das die Wahrheit oder belog er sich, weil er seine Gefühle nicht zugeben wollte? Wenn er ehrlich war, vermisste er Niedersachsen, den Ort, wo er aufgewachsen war und die längste Zeit seines Lebens verbracht hatte. Nein, schöner als im Rheinland ist es dort oben im Norden nicht, dachte er, nicht nach der allgemeinen Vorstellung von Schönheit. Aber was schön ist, ist Ansichtssache, das liegt ausschließlich in persönlichem Empfinden.
Kommissar Erhard Marder hatte sich auf eine Bank gesetzt und schaute nun dem Fluss zu. Vor einer Woche wäre das unmöglich gewesen, da hatte der Rhein mit seinem Hochwasser den Weg am Ufer überschwemmt, der normalerweise für Fußgänger und Radfahrer reserviert war. Nun hatte der Fluss wieder Vernunft angenommen und sich in sein Bett zurückgezogen.
Auch im Norden hatte er an einem großen Fluss gelebt. Nördlich von Hamburg, nicht weit von Stade, war die Elbe ein mächtiger Strom, deutlich gewaltiger als der Rhein bei Remagen. Es war jedoch nicht die Größe oder Breite der beiden Flüsse, die den wesentlichen Unterschied zwischen ihnen ausmachte. Der Unterschied waren die Flüsse selbst und alles, was sie umgab. Landschaft, Menschen, Städte und Dörfer.
Der Rhein floss Tag und Nacht unaufhaltsam in die gleiche Richtung, nur der Pegelstand änderte sich je nach Wetterlage, langsam, ohne dass man genau voraussehen konnte, wann er seinen Höchst- oder Tiefststand erreichen würde. Am Unterlauf der Elbe wechselte die Richtung des Wassers zweimal täglich, bei Ebbe strebte das Wasser ins Meer hinaus, bei Flut kam es zurück. Wenn starke Stürme aus dem Norden das Wasser in den Fluss drückten, drohten dem Land Überflutungen. Zum Glück gab es Deiche, die das regelten. Das war nicht immer so gewesen, früher hatten die Menschen bei Sturmfluten oft ihr Hab und Gut verloren. Aber solange er dort gelebt hatte, hatten die Deiche stets dem Wasser standgehalten. Als 1953 die letzte große Sturmflut über das Land an der Elbe hereingebrochen war, war er gerade erst geboren worden, und diese Katastrophe war noch nicht in seine Erinnerung aufgenommen.
Er liebte die Landschaft seiner Kindheit. Das Land kam flach bei den Deichen an, auf der anderen Seite der Elbe ging es ebenso flach weiter. Entwässerungskanäle unterteilten die Wiesen, auf denen Obstbäume standen, dazwischen weideten Kühe. Auf den Deichen grasten Schafherden. Viele Dörfer und Städte reichten nicht einmal bis an den Fluss, sie riegelten sich in sicherer Ferne durch Siele gegen Sturm und Fluten ab. Das war die Welt, wie er sie kannte, und er hatte als Kind geglaubt, dass sie überall so war.
Am Rhein waren die Städte romantischer als an der Elbe, sie schmiegten sich an die Ufer des Flusses und zogen sich in die Hügel hinauf. Die Sicht auf die Ortschaften von den Schiffen her wurde meistens von einer stattlichen Kirche beherrscht, die über die Häuser an der Promenade ragte. Er musste sich eingestehen, dass er diese Landschaft schön und reizvoll fand. Was ihn anfangs gestört hatte, waren die Busse mit Touristen, deren Insassen sich über die Städte an den Ufern ergossen. Aber er hatte inzwischen gelernt, das zu akzeptieren, denn ohne diese Besucher müssten die meisten Restaurants und Eisdielen am Fluss schließen, vor denen er gern in der Sonne saß.
An den Ufern der Unterelbe sah man Touristenbusse selten, das Blöken der Schafe war oft das lauteste Geräusch. Wenn sie nicht im Freien, sondern im Stall waren, und kein Sturm herrschte, war es unendlich still. Das war beruhigend, aber wenn er ehrlich war, war ihm diese Ruhe manchmal auf die Nerven gegangen. Dann hatte er sich gefragt, wo der Rest der Menschheit hingekommen war.
Was der Rhein und die Elbe gemeinsam hatten, waren Schiffe. Allerdings konnten diese nicht unterschiedlicher sein. Die auf der Elbe hatten einen Größenvorteil. Die neue Generation der Übersee-Frachter beförderte oft Tausende von Containern zwischen Hamburg und den Häfen der Weltmeere. Diese Containerschiffe hatten die Seefahrt und den weltweiten Handel revolutioniert und dabei die Romantik aus der christlichen Seefahrt vertrieben. Der Gedanke, was alles im Meer verschwinden würde, wenn so ein Schiff unterging, konnte einem Angst und Schrecken einjagen. Das sollte Gott verhüten, was er aber nicht immer getan hatte, es war schon mehr als einmal passiert. Die Containerschiffe, die den Rhein hinauf- und hinunterzockelten, hatten in den letzten Jahren ebenfalls an Länge und Breite zugelegt. Im Vergleich zu ihren großen Brüdern, die die Ozeane befuhren, wirkten sie dennoch wie Spielzeugschiffe.
Marder und seine Frau hatten sich bewusst entschieden, ins Rheinland zu ziehen. Er hatte länger gebraucht, als er erwartet hatte, sich auf das Leben in seiner neuen Heimat einzustellen. Er hatte nicht voraussehen können, dass ihn an manchen Tagen, noch mehr in manchen Nächten, wenn er nicht einschlafen konnte, die Sehnsucht nach dem flachen Land einholen würde. Er hätte nie geglaubt, dass er den ständigen Wind aus Nord/Nordwest, auf den er oft geschimpft hatte, vermissen würde.
Seine Frau hatte sich mit der Umstellung leichter getan, es schien ihr von Anfang an zwischen den Menschen im Rheintal zu gefallen. Das gab sie auch unumwunden zu. Sie hatte schnell Anschluss gefunden, im Fitnessclub und in der Kirchengemeinde hatte sie Freundinnen gemacht, mit denen sie sich gern in einem der Cafés der Stadt zum Plaudern und Schlemmen traf. Als sie einmal erwähnte, was eine dieser Frauen über ihre Pänz berichtet hatte, hatte er sie hilflos angeschaut. Er musste sich erst erklären lassen, dass mit Pänz Kinder gemeint sind. Und das war nicht das einzige Wort, das er neu lernen musste.
Sein Arbeitsplatz hatte sich bisher als so wenig aufregend herausgestellt, wie er es sich erhofft hatte. In kleinen Städten wie Remagen gab es eben meistens nur kleine Kriminalität, die von kleinen Verbrechern begangen wurde. Er war sich jedoch bewusst, dass das nicht immer so bleiben musste, denn manchmal schwappte das Verbrechen auch in freundliche und friedliche Orte, wo man nicht darauf vorbereitet war. Auch Remagen war davon nicht verschont geblieben. Vor fast zwanzig Jahren hatte es einen brutalen Raubmord in der Stadt gegeben, dem vier Menschen zum Opfer gefallen waren. Dieses Verbrechen hatte die Menschen zutiefst erschüttert, aber es war nun Teil der Geschichte des Ortes, und das tägliche Leben war längst wieder zur Normalität einer beschaulichen Kleinstadt zurückgekehrt.
Der Kommissar erhob sich. Das Entenpaar, das sich in seiner Nähe niedergelassen hatte, sprang verschreckt auf, lief aufgeregt zur Kante der Promenade und überlegte, ob es sich ins rettende Wasser stürzen sollte. Da Marder sich ihnen nicht weiter näherte, ließen sie es sein. Die Sonne hatte sich hinter einer Wolke versteckt, die über der Eifel aus dem Westen heranrückte und das linke Rheinufer in Schatten hüllte, während die weißen Häuser auf der anderen Seite des Flusses noch im Sonnenlicht glänzten. Er schlenderte flussaufwärts und wäre dabei fast von einem Radfahrer in bunter Renntracht über den Haufen gefahren worden. Er entschuldigte sich bei dem Mann, obwohl es eigentlich dessen Pflicht gewesen wäre, dies zu tun.
Er erreichte die Endtürme der ehemaligen Ludendorff-Brücke. Auf beiden Seiten des Rheins standen sie schwarz und beherrschend. Es schien, als blickten sie sich über den Fluss starr an, als hätten sie ein gemeinsames Geheimnis, über das sie nicht sprechen wollten. Die Brücke, die die Türme einmal verbunden hatte, war vor vielen Jahren ins Wasser gestürzt. In ihrer dunklen und unbeweglichen Wucht waren sie eine stumme Mahnung an die Menschheit, dass Kriege nie Brücken schlugen, sondern zerstörten. Er blieb stehen, betrachtete auf einer Tafel die in Erz gegossenen Schilderungen der Ereignisse am Ende des Zweiten Weltkrieges. Welche Tragödien hatten sich hier abgespielt, welche Hoffnungen wurden hier zu Grabe getragen? Gut, dass das die Vergangenheit war. Es wurden damals, nachdem dieser große Krieg vorüber war, aber auch Hoffnungen geboren, von denen sich eine Reihe erfüllt hatte. Marder war dankbar, dass er das Glück gehabt hatte, nicht eine Generation früher auf die Welt gekommen zu sein. Mit diesem Gedanken und der Zuversicht auf eine Zukunft in Frieden entschloss er sich, nach Hause zu gehen.