Die Brücke, die ihr Gewicht in Gold wert war. Wolfgang Teltscher

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Die Brücke, die ihr Gewicht in Gold wert war - Wolfgang Teltscher

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in sich ruhendes Bild. Hundert Prozent Rhein-Romantik. In zwei Stunden würde die Sonne untergegangen sein und die Hügel auf der anderen Seite des Stromes würden sich in eine dunkle Wand mit tausend Lichtpunkten verwandelt haben. Großartig und mysteriös.

      Im Tal unter ihm pulsierte das Leben. Hier oben war er nicht Teil davon, sich jedoch der Hektik an beiden Seiten des Stroms bewusst. Bundesstraßen an den Ufern, Bahngleise eingeklemmt zwischen Wasser und Hügel. Schnellzüge, Bahnen des Nahverkehrs und Frachtzüge drängelten sich hier Tag und Nacht und belästigten Bewohner des Tales mit Lärm. Auf dem Fluss Schiffe, die unermüdlich Güter brachten und holten.

      Er blieb einige Minuten auf der Bank sitzen, dann ging er ins Tal hinab, vorbei an stattlichen Häusern mit gepflegten Gärten. Hier wohnten die besser gestellten Leute in der Stadt. Menschen, deren Familien vermutlich ihren Wohlstand über Generationen weitergereicht haben. An der Sinziger Straße angekommen, die gleichzeitig die B9 war, nahm er allen Mut zusammen und überquerte die Fahrbahn in einer Lücke der endlosen Autokarawane, der nächste Fußgängerübergang war dreihundert Meter entfernt, diesen Umweg wollte er sich ersparen. Er musste sich beeilen, um nicht unter die Räder der Autos zu kommen, von denen sich kaum eins an die zulässige Höchstgeschwindigkeit hielt.

      Am Rheinufer suchte er sich einen Platz vor einem Lokal an der Promenade, wo Besucher die Abendsonne genossen. Einheimische und Touristen. Wer von ihnen in der Mehrheit war, traute er sich nicht zu entscheiden. An einem Tisch vor einer Eisdiele sah er Benjamin Hofrichter, seinen Assistenten. Er hatte keine Lust, sich mit ihm zu unterhalten, und tat, als bemerke er ihn nicht. Er bestellte ein Alsterwasser und musste wieder einmal feststellen, dass in diesem Teil Deutschlands ein Alsterwasser nicht dasselbe wie in Niedersachsen war. Er hätte einen Radler bestellen sollen. Er nahm sich vor, sich das nun und endgültig zu merken. Er beobachtete die Möwen, die dicht über der Wasseroberfläche dahinsegelten. Am Rand des Stroms kämpfte eine Gruppe Enten gegen die Strömung. Er fragte sich, wo diese Tiere Plätze für ihre Nester finden, ohne dass sie von der Strömung oder von dem wechselnden Wasserstand des Flusses weggeschwemmt werden.

      Ein Musiker mit seinem Akkordeon ging zwischen den Tischen und Stühlen auf und ab, spielte Wiener Kaffeemusik und bat mit traurigen Augen um milde Gaben. Manche Besucher gaben ihm etwas Kleingeld, die meisten ignorierten ihn, sie fühlten sich mehr belästigt als unterhalten. Radfahrer in Freizeitkleidung, davon einige in aufwendig bunten Rennoutfits, fuhren am Ufer entlang. Eigentlich war hier eine Fußgängerzone, aber das kümmerte die Radler wenig. Marder streckte seine Beine aus und schenkte der Welt um sich herum nicht länger Beachtung. Er dachte, wie so oft, über das Land am Rhein nach. Seine erste Erkenntnis war, dass am Fluss hier unten im Tal und im Gegensatz dazu in den Feldern und Wäldern nur hundertfünfzig Meter höher, wo er noch vor einer halben Stunde gewesen war, zwei unterschiedliche Welten existierten.

      Seine zweite Erkenntnis betraf sein eigenes Leben. Alles in allem, dachte er, sind das Rheinland und die Menschen, die hier leben, keine schlechte Wahl für die Zeit vor meinem Ruhestand und erst recht nicht für die Zeit danach. Was ich kaum zu hoffen gewagt habe, ist eingetroffen. Meine letzten Dienstjahre werden, wenn alles gut geht, friedlich und harmonisch ohne Mord und Totschlag verlaufen. Mit Benjamin Hofrichter werde ich mich arrangieren. Ein typischer Rheinländer, aber ich denke, er ist lernfähig. Bis zu meinem Abgang als Pensionär werde ich ihm genug beigebracht haben, um ihn mit gutem Gewissen als meinen Nachfolger vorschlagen zu können.

      Marder wusste nicht, wie weit er von der Realität der nächsten Zukunft entfernt war und wie zerbrechlich die Welt seiner Naivität war.

      Wo war der Mann geblieben? Er hatte gesehen, wie er zwischen die Büsche verschwunden war. Er konnte sich nicht in Luft aufgelöst haben. Etwas ging da vor. Er würde gern wissen, was es war.

      Langsam öffnete er die Tür seines Autos. Den Schlüssel ließ er im Zündschloss stecken. Man konnte ja nicht wissen, ob man schnell abhauen musste. Stehlen würde den Wagen in den nächsten Minuten bestimmt niemand. Er wartete einige Sekunden, dann stieg er aus. Leise drückte er die Autotür zu. Bloß kein unnötiger Lärm. Er blieb stehen und erschrak, ein Schatten huschte über den Boden. Eine Ratte oder eine Maus. Der Mond warf für Sekunden ein diffuses Licht über den Hof, dann verkroch er sich wieder hinter einer Wolke. Er lauschte. Nichts ist zu hören. Der Mann, er war sicher, dass es ein Mann war, könnte jederzeit aus den Büschen wieder hervorkommen. Er wartete einige Atemzüge, dann bewegte er sich vorsichtig auf das Gebüsch zu. Das Licht der Taschenlampe des Mannes war nirgends zu sehen. Alles war ruhig. Ihm wurde unheimlich, seine Neugier war jedoch größer als seine Angst. Er ging zwischen die Büsche, wo er den Mann hatte verschwinden sehen. Ein Zweig wischte ihm übers Gesicht, traf ihn im Auge. Er schob ihn unwirsch zur Seite. Er wollte fluchen, traute es sich aber nicht. Beim nächsten Schritt stieß er an die Felswand. Es musste irgendwo weitergehen. Er war unsicher, was er tun sollte.

      Er nahm sein Taschenmesser aus der Jacke und klappte es auf. Es war stabil und etwas größer, als ein Taschenmesser unbedingt sein müsste. Er hatte es immer bei sich. Aus Sicherheitsgründen. Sicherheit wovor? Konnte er nicht sagen, spielte keine Rolle, einfach so, wegen der Sicherheit eben. Er tastete sich an der Wand entlang. Nach links, es war ihm vorgekommen, als hätte es dort zuletzt Bewegung in den Sträuchern gegeben. Seine Hände ertasteten die Felswand. Sie war rau und feucht. Plötzlich, er griff ins Leere. Er blieb stehen. Atmete tief ein. Ganz ruhig bleiben, sagte er sich. Er ging einen Schritt weiter. In der Wand war eine Öffnung. Er konnte sie nicht sehen, nur spüren. Die Luft war anders, frischer, er fühlte einen Luftzug. Er streckte beide Hände aus, fand links und rechts Halt und machte zögernd einen Schritt in die Öffnung hinein. Der Luftzug wurde deutlicher. Er spürte es in seinem Gesicht. Es musste einen Gang in den Berg hinein geben. Vorsichtig ging er weiter. Nach drei Schritten blieb er stehen und lauschte. Ein Wassertropfen traf seine Stirn. Wie feucht es hier war. Er hielt den Atem an. Er glaubte, ein kratzendes Geräusch zu hören. Da musste jemand sein. Die Geräusche mussten von dem Mann verursacht werden, der zwischen den Büschen verschwunden war. Wieder machte er vorsichtige Schritte. Er sah einen schwachen Lichtschein nur wenige Meter vor sich. Das musste die Taschenlampe sein, die der Mann bei sich gehabt hatte. Er blieb stehen und überlegte, ob es nicht besser wäre, umzukehren. Nein, er musste herausfinden, was hier vor sich ging. Er griff sein Taschenmesser fester. Er hatte immer geahnt, dass er einmal in eine Situation geraten würde, in der er es brauchte. Vielleicht war das jetzt der Fall.

      Maximilian war neun, Torsten elf. Sie waren Brüder und sich meistens einig, was sie gegen den Willen ihrer Eltern tun wollten. Am liebsten spielten sie im Wald, der nur wenige Schritte von ihrem Haus begann. Die Schule lag für heute hinter ihnen, die Eltern waren nicht zuhause. Der Vater arbeitete als Krankenpfleger im Schlaflabor im Remagener Krankenhaus, wo er es täglich mit unausgeschlafenen und schlecht gelaunten Leuten zu tun hatte. Er selbst schlief manchmal auch nicht gut, und wurde in solchen Nächten dazu noch von wirren, manchmal auch grausamen Träumen gepeinigt. Er wachte dann am Morgen erschöpft auf, schimpfte erst auf seine Träume und danach mit den Kindern, die nicht wussten, womit sie das verdient hatten. Seine Frau riet ihm an solchen Morgen, sich selbst einmal im Schlaflabor behandeln zu lassen.

      »Als ob das was hilft, die meisten Kollegen leiden selbst unter Schlafschwierigkeiten. Wenn die sich alle im Schlaflabor behandeln lassen würden, hätten wir keine Betten mehr für Patienten frei. Auf jeden Fall helfen uns eigene Schlafprobleme, unsere Patienten besser zu verstehen.« Frau und Kinder versuchten an solchen Tagen, ihm so wenig wie möglich in die Quere zu kommen. Die Mutter von Maximilian und Torsten war in der Verwaltung des Arp-Museums in Rolandseck angestellt. Sie liebte ihre Arbeit, hatte aber oft ein schlechtes Gewissen, denn als Mutter von zwei Jungen sollte sie ihnen eigentlich mehr Zeit widmen können. Hin und wieder musste sie geschäftlich verreisen, das ließ sich nicht vermeiden, wenn man einen Arbeitsplatz mit Verantwortung hatte. Wenn sie von diesen Reisen nach Hause kam, war sie erleichtert, wenn sie ihre Kinder munter und gesund antraf. Meistens passte während ihrer Abwesenheit jemand aus der Verwandtschaft auf die Jungen auf. Doch wenn sich das nicht arrangieren ließ, hatten Maximilian und Torsten große Freiräume, Dinge

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