Explorer ENTHYMESIS. Matthias Falke

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vorstellen, wie wir die Explosion überlebt hatten.

      »Wie fühlst du dich?«

      »Prächtig ...«

      »Im Ernst ...«

      »Ich glaube, es ist besser, wenn wir nicht so viel darüber nachdenken.«

      »Lass uns die Situation realistisch einschätzen!«

      »Weißt du, was ich mir wünsche?«

      »Mhm?«

      »Mal wieder auf’s Klo zu gehen. Also, so richtig ...«

      »Da wirsts du dich noch ’n paar Tage gedulden müssen ...« Bei derartigen Exkursionen wurde die Ausscheidung auf Null reduziert. Die Ernährung war ballaststofffrei, und die Verdauung wurde durch das sensorielle System entsprechend lahmgelegt – sofern es funktionierte.

      Wir hatten unsere Anzüge durchgecheckt. Jennifers Beinmanschetten waren unterhalb der Knie ramponiert. Kälte-Isolierung und Haut-Beatmung waren defekt. Schlimmer aber war, dass unsere Schwerkraft-Dämpfer einiges abgekriegt hatten. Sie reichten aus, die höhere Gravitation auf Lu-Au auszugleichen. Wir konnten also ganz normal gehen, mehr nicht.

      »Also auf!«, versuchte ich, Ferienstimmung zu verbreiten. »Gehen wir nach Hause. Auch ein Weg von tausend Kilometern beginnt mit dem ersten Schritt. Falls du weißt, von wem das ist.«

      »Wir haben nicht tausend Kilometer, sondern über dreitausend. Außerdem kann ich für die Richtung nicht mehr garantieren.«

      »Wir sind am Nordpol! Alle Wege führen nach Süden. Es reicht, wenn wir bis auf den 80. Breitengrad runterkommen. Dann sollen sie uns gefälligst rausholen. Und auf Rogers’ Erklärung bin ich jetzt schon gespannt.«

      An diesem Tag schafften wir fünfzehn Kilometer, am nächsten fünfzig. Wir gönnten uns einen erhöhten Blutzucker und ein bisschen Adrenalin, so dass wir mit zwei Stunden Schlaf auskamen, den wir flach nebeneinanderliegend im aquamarinfarbenen Schotter absolvierten. Der Traubenzucker, der uns kontinuierlich ins Bauchfell injiziert wurde, und die Energie unserer Systeme reichten noch für Wochen, wenn nicht Monate. Und so latschten wir vor uns hin, durch dunkelblaues, manchmal grünliches Geröll, topfeben, unter einer fahlen Sonne, die in 38 Stunden einmal um uns herummarschierte.

      »Bei meiner Notlandung auf Japetus hat es vierzig Tage gedauert, bis sie uns rausgeholt haben.«

      »Da haben wir bei unserem momentanen Tempo grade mal die Hälfte ...«

      Am nächsten Tag legten wir 45 Kilometer zurück. Naja, und so langsam fingen wir an zu rechnen. Am vierten Tag kamen wir an das Schlangenloch. d.h. es musste ein anderes sein. Allerdings wurde unsere Positionsbestimmung immer schwieriger. Mein Navigationsarmband hatte so ziemlich den Geist aufgegeben, und ich versuchte mich an den Gestirnen zu orientieren. Die Sonne ließ sich ja schön anpeilen, wenn wir auch aufpassen mussten, dass wir nicht einfach auf sie zutrotteten, dann wären wir in grandiosen Kreisen herumgetappt. Die Sterne waren zu schwach, als dass man ihnen hätte präzise Informationen abgewinnen können. Ich hatte auch von Horizonthöhe und Ekliptik keine Ahnung. Wie auch immer, selbst bei einer Toleranz von hundertfünfzig Kilometern konnte es nicht unser Schlangennest sein. Es verhielt sich auch ganz anders. Als wir uns dem Krater näherten, der fünfzehn Kilometer im Durchmesser hatte, entsprach die Aktivität derjenigen, die unser Loch beim Höhepunkt des Ausbruches gehabt hatte. Es konnte also auch ohne äußeren Auslöser losgehen! Vor allem aber ließ die Intensität nicht nach, sondern sie nahm immer noch zu. Auch hier quollen die ersten Eiswülste bereits über den Rand. Im Inneren der Caldera konnte man die einzelnen Stränge gar nicht mehr unterscheiden. Eine massive Gletscherkuppel wölbte sich dort auf und ergoss sich unter metallischem Kreischen – wir mussten die Außenmikrophone runterregeln – in die Ebene. Das waren nun tatsächlich Gletscher-Ströme und -Zungen, die über das flache Geröll hinausleckten und es zu Moränen und Trogtälern umwühlten. Ein gigantischer Eisbruch, der sich konzentrisch ausbreitete wie eine schwärende Wunde. Wir mussten allmählich aufpassen, dass wir nicht vom Weg abgebracht wurden, denn das Phänomen lag südwestlich vor uns. Wir joggten also tangential los!

      Wir kamen bis auf einige Schritte heran. Die äußere Front war ein fünfzehn Meter hoher Wall, der den Schotter aufwarf und dahinter als massive Stirn von bläulichem Eis, von den eigenen Spannungen ständig zerrissen und wieder neu aufgetürmt, unaufhaltsam vorwärts rückte. Drei bis fünf Meter in der Minute. Wir liefen noch ein Stück über den Tangential-Punkt hinaus, bis wir uns trauten, stehen zu bleiben, ohne im nächsten Augenblick überrollt zu werden, da brüllte mir Jennifer, die einige Minuten voraus war – mir taten allmählich ganz schön die Knochen weh! –, in den Helm .

      »Oh Mann, sieh mal da! Mehr nach Westen!«

      Ich blieb kurz stehen und spähte schräg-rechts nach vorne. Und musste doch schlucken. Dort – es fiel uns immer noch schwer, die Entfernungen zu schätzen, aber es mussten gut dreißig Kilometer sein – war ein weiterer Eis-Ausbruch im Gange, der noch heftiger als der hinter uns schien. Die Gletscher-Front, die über die Ebene galoppierte, schien regelrecht zu gischten und zu stauben, mit solcher Wut preschte sie vorwärts. Sie würde uns – nachdem wir gerade einen Schlenker nach Westen gemacht hatten – ziemlich nach Osten abdrängen. – sofern wir überhaupt noch vorbeikamen, denn im Augenblick schob sie sich quer über unseren Weg.

      »Frank!«

      Was war denn jetzt schon wieder?

      »Hinter dir!«

      Aber ich sah schon selbst. Schräg hinter uns, in Westnordwest etwa, war ein drittes dieser Dinger ausgebrochen. Das war eine regelrechte Pest hier! Und seine Stirnmoräne prallte eben, keine achthundert Meter hinter uns, mit der ersten zusammen, der wir gerade ausgewichen waren. Die beiden Eis- und Geröll-Fronten verkeilten sich ineinander und bäumten sich auf, um dann, wie eine Brandungswoge, die sich reißend überschlägt, nach Süden hin umzukippen und mit verdoppelter Wucht und erderschütternder Gewalt auf uns loszutoben. Ich nahm die Beine in die Hand und rannte, wie ich seit dem Abschluß-Sportfest an der Akademie vor 78 Jahren nicht mehr gerannt war. Stechende Schmerzen zuckten durch mein rechtes Knie, und die Automatik faselte etwas von.

      »Ausfall im Sensoriellen Bereich. Defekte Isolierung im rechten Knie und Unterschenkel.«

      »Jennifer!«, schrie ich. »Wir haben keine Chance!«

      Ich hörte sie japsen, sie rang nach Luft und Ideen – dabei war sie viele Jahrzehnte jünger als ich!

      »Wir müssen oben drauf ...«

      »Auf’s Eis?«

      »Auf’s Eis! Hier unten werden wir platt gemacht.«

      »Ich glaube, du spinnst!«

      »Vertrau’ einem alten Bergsteiger. Ich bin in Alaska auf Gletschern rumgestiefelt, dagegen sind diese Dinger ein Scheiß !«

      Aber wir hatten gar keine Zeit mehr für große Diskussionen. Hinter uns brodelte gischtgrünes Chaos heran. Ich winkte Jennifer weiter nach links, wo wir den Hauptstoß an uns vorüberrauschen ließen. Die südwestliche Front näherte sich vergleichsweise gemächlich.

      »Dämpfer volle Leistung!«, befahl ich.

      »Maximale Dämpfung 52% ...«

      »In Ordnung. Und Stabilisatoren weg!«

      Ich nahm Jennifer

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