St. Pauli, meine Freiheit. Sieghard Wilm

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St. Pauli, meine Freiheit - Sieghard Wilm

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Lehrer wusste zu kommentieren: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“ Ich frage noch einmal nach, wie er es meinte, weil ich das so unfassbar verächtlich fand. Ja, ich hatte richtig gehört. Er meinte es so. Mein Vater bediente ihn an der billigsten Tanke Norddeutschlands, was hatte sein Sohn dann im Lateinunterricht zu verlieren?

      Ich war tatsächlich das einzige Kind eines Arbeiters in meiner Klasse. Als mir das bewusst wurde, wollte ich mich erst recht nicht beugen. Vermutlich habe ich an diesem Lehrer den Großteil meiner pubertierenden Opposition abreagiert. Meine Eltern haben mich dann eher als still und verträumt erlebt. Als einen, der froh ist, in Ruhe gelassen zu werden.

      Latein konnte man als Fach nicht abwählen. Ich hatte null Punkte und war dazu übergegangen, den Unterricht abzusitzen und dabei Karikaturen von meinem verhassten Lateinlehrer anzufertigen. In der Oberstufe musste bei jeder Zeugniskonferenz extra beschlossen werden, dass ich versetzt werde. Ich hatte anscheinend genug Lehrer auf meiner Seite. Meinem Lateinlehrer wollte ich es aber richtig zeigen. Er sollte nicht denken dürfen, ich sei dumm oder faul. Also fing ich an, Griechisch zu lernen. Unser Pastor und seine Frau hatten mit einigen Familien und einem Dutzend Jugendlicher Ende der 70er eine Griechenlandreise organisiert. In den 1980er-Jahren sollten weitere Gemeindereisen folgen. Das war Motivation genug. Neugriechisch wurde in der Volkshochschule unterrichtet. Und ich war mit vollem Eifer dabei, gemeinsam mit dem Pastor und seiner Frau. Meine Griechischlehrerin war eine imposante Erscheinung und rauchte während des Unterrichts eine Zigarette nach der anderen. Ich konnte meinen Blick nicht von ihren rotlackierten Fingernägeln und ihrem rotgeschminkten Mund lassen. Zu meinem Erstaunen reagierte das Pastorenpaar, die immer mehr zu meinen zweiten Eltern wurden, ganz gelassen auf diese „sündige Erscheinung“. Schminke war in unserer Gemeinde verpönt, in der Mädchen allenfalls einen Hosenrock tragen durften, aber keine Hose. Es wurde sogar diskutiert, ob Frauen beim Gebet ein züchtiges Kopftuch tragen sollten. Und Rauchen? Unvorstellbar. Jetzt schienen andere Maßstäbe zu gelten. So eng unsere fromme Gemeinde auch war, mit den insgesamt drei Griechenlandreisen öffnete sich für mich eine neue Welt und mein Griechisch wurde mit jeder Reise besser. Griechenland war immer noch wild, als ich es kennenlernte. Wir holperten über steinige Pisten, auf denen uns Maulesel und Schafherden begegneten und standen plötzlich vor einem zweitausend Jahre alten Tempel. Wir übernachteten in Zelten und billigen Hotels. Wir besuchten Museen mit griechischen Gottheiten, Klöster und Kirchen, die mit Ikonen geschmückt waren. Weihrauch und Gesänge, die meine Seele tief berührten und eine Lebensfreude, die mich ansteckte. Ich hatte Griechenland mit der Seele gefunden.

      Später sprach ich mit meinem Bruder darüber, welchen Sinn es denn eigentlich machen würde, das Abitur zu bestehen. In der Gemeinde hatten wir ja gelernt, die Zeichen der Zeit zu deuten. Und eins war klar: Es gab Krieg und Kriegsgeschrei, und das Ende der Herrschaft dieser Welt war nahe. Der Kalte Krieg, der uns zunehmend bewusst wurde, und die atomare Aufrüstung passten einfach gut mit der Apokalypse des Johannes zusammen, in der davon die Rede war, dass das siebente Siegel gebrochen und die Schalen des Zorns ausgeschüttet würden. Wozu dann noch Abitur? Ich rechnete damals nicht damit, älter als dreißig zu werden. Zu finster war es, was sich in der Welt zusammenbraute.

      Bibelfest waren wir ja. Mit uns konnten es nur wenige Pastoren aufnehmen. Wir strahlten eine gewisse Überheblichkeit aus, die wir für Frömmigkeit hielten. Bibelverse lernten wir auswendig und auch ganze Psalmen. Ein frommer Sport bestand darin, Bibelverse möglichst schnell aufzuschlagen. Wer den Vers gefunden hatte, durfte ihn stolz aufsagen. Als ich in der Oberstufe war, beteiligte ich mich an einer Pausenandacht in unserer Schule, die man uns Frommen zugestanden hatte. Mache Schüler hatten einfach keine Lust, nach draußen zu gehen. Der Schulhof war ein Territorium anstrengender sozialer Kontakte, die Pausenandacht war ein bequemer Zufluchtsort. Die verlorenen Seelen stellten uns Frommen manchmal Fragen, die mich aus der Fassung brachten. Was ich denn dazu sagen würde, wenn zwei Männer sich lieben? Ich druckste herum, bis mir einige Bibelverse einfielen. Ich murmelte irgendetwas von „… ist dem HERRN ein Gräuel …“ – war aber wie angefasst. „Wenn zwei Männer beieinander liegen wie bei einem Weibe.“ Das hatte ich irgendwo in der Heiligen Schrift gelesen, aber überhaupt nicht damit gerechnet, dass es so etwas wirklich gibt. Weit entfernt davon, meine eigene Homosexualität zu erkennen, erinnere ich aber bis heute, wie mich das damals getroffen hatte. Es war nicht so, dass Homosexualität ein spezielles Tabu in unserer Gemeinde war. Sexualität war generell ein Tabu.

      Eigentlich hätte es auffallen können, dass ich von Mädchen umgeben war, während die anderen Jungs mit Händen in den Hosentaschen von einem Bein auf das andere traten und zu uns herüber schauten. Ich war unbefangen. Ich war naiv, ich war fromm. Ich war blind.

      Ich erinnere mich daran, wie ein Mädchen vor mir stand und plötzlich anfing zu weinen. Sie hatte sich offensichtlich in mich verliebt – und ich war kalt zu ihr, weil mein Empfang auf eine andere Frequenz eingestellt war. Ich schaute den Jungs hinterher.

      Als ich 16 Jahre alt war, hatte sich mein bester Schulfreund in ein Mädchen verliebt. Die beiden gehörten zu den ersten Paaren und waren sichtlich stolz aufeinander. Als ich sie sah, wie sie in einer Ecke des Pausenhofes innig ineinander verschlungen knutschten, bis die Klingel zum Unterricht schellte und sie nicht zu Ende kommen konnten – da spürte ich einen Stich im Herzen. Heute ist mir klar, dass ich damals in meinen Schulfreund verliebt war. Ich habe es ihm niemals sagen können.

      In der Gemeinde hatte das sexuelle Erwachen der Jugendlichen keinen Raum. Sexualität hatte seinen Platz ausschließlich in der Ehe. Dort diente sie der Zeugung von Kindern. Traute sich mal jemand eine Frage zu stellen, dann hieß es oft, dafür seien wir noch zu jung. Als sich der beste Freund meines Bruders, der genauso Gemeindegänger war wie wir, in ein Mädchen aus dem Jugendkreis verliebte, wurden beide beim Händchen halten von unserem Pastor erwischt. Der Gottesmann und seine Frau – ihr Wort war für uns Gesetz – untersagten jeglichen weiteren Kontakt zwischen den Liebenden. Während die Dorfjugend kein wichtigeres Thema kannte als die Frage, wer mit wem was laufen hatte oder wer mit wem warum Schluss gemacht hatte, lasen wir weiter unsere Bibel.

      Wenn am Samstag die Dorfdisko lief, zu der die Jugend auf ihren frisierten Mopeds knatterte, dann saßen wir im Gebetskreis mit 20 oder 30 jungen und älteren Menschen zusammen und beteten laut in der Runde. Jeder war der Reihe nach dran. Da wurde um die Bekehrung der Schwester oder der Eltern gebetet, aber auch für die Missionare in Afrika. Und immer wieder war der Gebetsruf zu hören: „Maranatha, komm, Herr Jesus, komm bald!“ Hatte jemand zu Ende gebetet und schloss mit Amen, bekräftigten alle im Chor mit Amen. So ging der Gebetskreis oft zwei Stunden lang.

      Als ich endlich mein Abiturzeugnis in Händen hielt und der anschließende Sektempfang im Pausenhof alle auflockern sollte, verabschiedeten sich meine Eltern schnell. Statt auf der Abifete zu tanzen, saß ich abends in einem klassischen Konzert. Auf dem offiziellen Abiturfoto wird man mich vergeblich suchen. Es war eine kleine Welt mit einem engen Horizont, in der ich als 20-Jähriger lebte. Wenn jemand mich damals fragte, hatte ich altklug auf alles eine Antwort. Heute erkenne ich, dass diese fromme Arroganz nichts anderes war als eine Frucht meiner Angst und Isolation.

      Die Hamburger Stadtgrenze war von unserem Dorf kaum 40 Kilometer entfernt. Aber die Großstadt war eine Welt, die mich als Dorfkind überforderte. Hatten wir doch gelernt, dass die Kinder die Erwachsenen auf der Straße zuerst grüßen müssen, so ist es höflich. Dabei den Kopf nicken. Ich sehe mich jetzt noch in der Mönckebergstraße vor den großen Kaufhäusern stehen und jeden Passanten grüßen. Aber ich kam einfach nicht mit. Mein Kopf tat schon vom vielen Nicken weh. Die Vorbeieilenden hatten kaum geantwortet. Einige starrten mich fragend an. Ich grüßte weiter. Weil sich das so gehörte.

      Zurück aus Hamburg fiel ich sofort ins Bett vor Erschöpfung und wurde von unruhigen Träumen geplagt.

      Ein anderes Hamburg-Erlebnis war der Fischmarkt, den ich als Zwölfjähriger besuchte. Draußen war es noch dunkel, als meine Eltern uns Kinder weckten, um nach Hamburg zu fahren. Was für ein Abenteuer! Damals landeten die Kutter noch direkt am Fischmarkt an und verkauften ihre fangfrische Ware.

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