St. Pauli, meine Freiheit. Sieghard Wilm
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Bei einem unserer Besuche auf dem Fischmarkt nahmen wir uns Zeit, durch einige Straßen St. Paulis zu bummeln. An Harrys Hamburger Hafenbasar konnte ich nicht vorbeigehen und schaffte es irgendwie, meine Eltern von einem Besuch in diesem Kuriositätenkabinett zu überzeugen. Harry Rosenberg saß mit langem Bart geheimnisvoll inmitten geschnitzter Masken aus Java und Nagelfetischen aus Westafrika, getrockneten Kugelfischen und barbusigen Galionsfiguren. Seeleute aus der ganzen Welt waren die Zulieferer von Harry. Es roch süßwürzig nach tropischem Holz und scharf nach Rattenpisse und modrig nach den schimmeligen Kellern. Besonders spannend fand ich aber die beiden Schrumpfköpfe, die Harry auf langes Bitten hin zeigte. Er hielt die Köpfe an ihren langen Haarschöpfen, ihre Münder waren zugenäht. Mich gruselte und gleichzeitig bekam ich Lust auf das Fremde.
St. Pauli sah ich Jahre später, als ich meinen Zivildienst leistete. Aus der Lüneburger Heide kommend hatte mein Zug bei Heimfahrten Zwischenstopp in Hamburg. Ich fuhr ein paar Züge später und machte meine Entdeckungstouren. Auf St. Pauli sah ich die besetzten Häuser der Hafenstraße. Barrikaden waren errichtet. Verwegene Typen schauten mich schmalen Dorfjungen an. Ich war viel zu schüchtern, um in dieser anderen Welt irgendwelche Kontakte zu knüpfen. Es roch verbrannt und gefährlich. Dieses St. Pauli hat mich abgestoßen und zugleich angezogen.
Dann gab es kein Amen mehr
Wie sollte es nach dem Abitur weitergehen? Viele Jugendliche aus meiner Gemeinde gingen auf Bibelschulen und wollten ihr Leben ganz in den missionarischen Dienst für die Sache Gottes stellen. Ich wollte den Wald retten. Das Waldsterben war in den 1980er-Jahren das wichtigste ökologische Thema. Aus Sicht der frommen Kreise, in denen ich aufwuchs, musste das allerdings eine vergebliche Mühe sein. Diese Erde werde untergehen, so stand es doch in der Apokalypse des Johannes.
Für mich aber war der Wald mein Freund, die Natur mein Zufluchtsort. Meine Einsamkeit, die ich als einer unter Vielen in der Gruppe schmerzhaft spürte, fand bei Waldwanderungen ihren Frieden. Ich habe mir damals eine Lodenjacke gekauft. Hoch aufgeschossen und schmal, wie ich war, muss ich in meinem grünen Mäntelchen eine merkwürdige Erscheinung gewesen sein.
Während mein Bruder seinen Wehrdienst leistete und Panzerketten schmierte, hatte ich schon mit 16 meine Verweigerung handschriftlich eingereicht. Damals musste man noch vor ein Komitee Uniformierter treten und die Beweggründe für die Verweigerung persönlich darlegen. Ich berief mich auf die Bergpredigt Jesu und das Wort „Selig sind die Friedensstifter“. Von meiner Gemeinde gab es keine Unterstützung für die Kriegsdienstverweigerung. Während sich andere Pastoren und Gemeinden gerade in den 70er- und 80er-Jahren ganz deutlich mit pazifistischen Haltungen zeigten, wurde bei uns nach dem Römerbrief des Paulus, 13. Kapitel, gelehrt, man solle der Obrigkeit untertan sein. Zudem verteidigte ja die Bundeswehr unser Land gegen den Überfall des Kommunismus, dem großen Feindbild der konservativen Christen. Aber wer den Dienst mit der Waffe verweigerte, der galt in meiner Gemeinde als Drückeberger. Einer, der keinen Mut hatte, einer, der den bequemsten Weg wählte.
Meinen Zivildienst leistete ich nach dem Abitur im Geistlichen Rüstzentrum Krelingen. Dieser Name muss alle, die nicht zu den inneren Zirkeln der Frommen gehören, vor den Kopf stoßen. Ein Zivildienstleistender im Rüstzentrum. Gemeint war natürlich die geistliche Rüstung nach Epheser 6,11: „Ziehet die volle Waffenrüstung Gottes an, damit ihr gegen die listigen Anläufe des Teufels zu bestehen vermögt.“
Das Rüstzentrum verstand sich als Glaubenswerk. Den über 20 Zivis wurde klar gemacht, dass es hier nicht um Dienst nach Vorschrift geht, sondern sich alle mit Herz und Seele einsetzten in einem Dienst für Gott. Das bedeutete 24 Stunden einsatzbereit, alle sechs Wochen ein freies Wochenende mit Familienheimfahrt.
Ich arbeitete mit psychisch Kranken und Drogenabhängigen in Therapiegruppen zusammen. Eine Baumschule gab den Rahmen. Rehabilitanden setzten Stecklinge mit zitternden Händen. Heulende Männer, Hippies aus den 70ern, die deutlich älter waren als ich oder auch Gleichaltrige, die schon viel durchgemacht hatten. Für sie da zu sein, sie zu lieben wie Gott uns in Jesus Christus liebt, das war meine Aufgabe. Ihre Verrücktheiten zu ertragen, ihre Launen, das war mein Alltag. Immer noch besser als Panzerketten schmieren, dachte ich. Und ich war auch stolz darauf, es für Gott zu tun. Für die Stabilen unter den Therapierten bildeten eine Putenfarm und ein Tischlereibetrieb den Rahmen. Die ersten Nachrichten von AIDS erreichten uns, der Virus tötete viele. Die Infizierten zu kasernieren und zu isolieren war politisch im Gespräch, als Forderung der Bauern auch in dem benachbarten Heidedorf. Unsere Einrichtung widersprach dieser Hysterie. Das fand ich stark. Mich bedrückte allerdings, dass der Virus als Schwulenseuche bezeichnet wurde und als Strafe Gottes. Heute verstehe ich, dass ich damals von vielen schwulen Männern umgeben war. Aber alles war tabuisiert.
Der Einsatzleiter der Zivildienstleistenden war ein Mann, der sieben Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft in Sibirien zugebracht hatte. Ich habe gesehen, wie er den Ratten im Kartoffelkeller mit der Hand das Genick gebrochen hat. Dann hielt er das Tier wie eine Trophäe hoch und zeigte unter dem Applaus des Küchenpersonals grinsend sein Goldzahnsortiment. Zivis waren für ihn, den ehemaligen Wehrmachtssoldaten, alle zu verachtende Weicheier. Als wir im Winter eine Straße pflastern mussten, viel zu dünn angezogen bei Minusgraden und ohne Arbeitshandschuhe, ich schlotterte am ganzen Körper, meine Finger waren ohne jedes Gefühl, da passierte es: Ein befreundeter Zivi aus dem frommen Schwabenland schaute mir lange in mein trauriges Gesicht und gab mir schließlich einen Kuss auf den Mund. Mitten am Tag, während die Schneeflocken aus dem Himmel fielen, jede Flocke wie ein Gruß von ganz oben. Mich verwirrte das alles. Vielleicht habe ich das verdrängt, aber ich habe es nie vergessen. Einmal vertraute ich mich einem Seelsorger an und sprach ihm gegenüber unter Tränen und zitternd meine Befürchtung aus, ich könne schwul sein. Er beruhigte mich: ich solle nur eifrig beten, das sei eine Phase, die vorüberginge.
Später hatte ich mich verliebt in einen anderen Zivildienstleistenden. Ich hatte noch keine Sprache für diese Liebe zu einem Mann. Ich hielt das für tiefe hingebungsvolle Freundschaft. Mein Angehimmelter war in seiner Entwicklung deutlich weiter als ich und hatte einen Mann seiner Liebe, der war als Volontär in Taizé. In dieser ökumenischen Kommunität, vor der uns unser Pastorenpaar gewarnt hatte. Evangelisch und Katholisch – das ging doch nicht zusammen. Taizé sollte wichtig für mich werden.
Als Zivildienstleistender hatte ich 24 Stunden Dienst. Wenn einer der Bewohner eine Krise hatte, es waren psychisch Kranke mit Drogenerfahrungen, dann kamen sie über Nacht auf das Zimmer eines Zivis, damit die Betreuer ihre Ruhe hatten. Oft war ich ratlos überfordert. Die Ausbrüche, die Krämpfe, die stundenlangen Gespräche unter Tränen. Übermüdet musste ich den kommenden Morgen wieder funktionsfähig sein. Beten und arbeiten. Es gab kaum etwas, was man Freizeit nennen konnte. In seltenen Momenten lief ich kilometerweit in den Wald. Schwitzend und meine Lungen spürend, fragte ich mich selbst und betete es in den Himmel: Welchen Sinn macht das alles und wohin soll ich?
Erst langsam und zaghaft kam mir der Gedanke, ich könnte Theologie studieren.
In der Einrichtung gab es die Sprachschüler, die ein sogenanntes Vorstudium absolvierten. Das war eigentlich dazu gedacht, alle angehenden Pastoren so in ihrer Frömmigkeit zu festigen, dass sie ihren Glauben nicht an der Uni verlieren würden. Die Universität galt den Frommen als Hort des Unglaubens, manche nannten es den Herrschaftsbereich Satans.
Zu dem Studienjahr gehörte es, das Hebraicum und das Graecum zu erwerben, obligatorisch für ein Theologiestudium. Ich verabredete mit mir: Sollte es mir trotz meiner schlechten Erfahrungen mit Latein gelingen, diese zwei anderen antiken Sprachen zu lernen, würde ich den Mut für ein Theologiestudium aufbringen. Denn die angehenden Theologiestudierenden fand ich sympathisch. Sie teilten in nächtlichen Gesprächen bis zum Morgengrauen meine Fragen