Seidenkinder. Christina Brudereck
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Und noch ein Problem ergibt sich mit der Zeit für die Bauern, die das kostbar gestaute und in sorgfältig bemessenen Rationen zugänglich gemachte Wasser nutzen. Denn derjenige, der das Wasser besitzt, darf auf einmal auch bestimmen, wofür. Gerade freuten sich noch alle, dass statt einer schlechten Ernte im Jahr dank des Wassers mehrere gute Ernten im Jahr eingebracht werden können, da werden die Abhängigkeiten klar: Der Bauer, der bisher für sich und seine Familie Mais und Hirse angebaut hatte, wird gezwungen, landwirtschaftliche Produkte anzupflanzen, die sich für den Export lohnen: Baumwolle, Soja und vor allem Zuckerrohr. Und so ist der Boden zwar fruchtbar, aber die ihn bestellen, können sich nicht mehr leisten, was auf ihm wächst. Ihr Land bringt keine Nahrung für sie, sondern für andere.
Nach einigen Jahren kann dann der Boden nicht mehr mithalten, er ist überfordert, wenn er so behandelt wird. Und ist erst einmal eine Verschlammung oder eine Versalzung der Böden eingetreten, sind die Ernten schlechter als vorher.
Matt zwang sich, weiterzulesen, weiterzudenken. Allmählich tauchten hinter diesen Fakten ein paar sehr tiefe, grundlegende Fragen auf: Wem gehört der Boden, das Wasser, die Wälder? Wem gehört Indien? Wem gehört eine Demokratie? Wem gehört eigentlich das Land? Wer darf bestimmen, was mit ihm passiert? Anders gefragt: Wer bestimmt und wem nutzen die Staudämme am Ende wirklich? Warum baut man sie weiter, wenn die Konsequenzen doch so offensichtlich verheerend sind? Wer profitiert eigentlich?
Matt seufzte. Wer immer und überall profitiert. Kreditgeber, Berater, die Weltbank, Ingenieure, internationale Firmen, Baufirmen, Schleusenhersteller. Wer leiht Indien teures Geld, damit Staudämme gebaut werden können? Dieselben, die ihnen ein paar Jahre später weitere Kredite geben, um die Böden zu entsalzen. Er war müde. Matt, sagte er zu sich selbst, mach dir keine Illusionen, das ist erst ein Thema. Das Land hat ein paar solcher Baustellen. Lern es kennen und schau, ob du dich irgendwo einbringen kannst. Er merkte, dass ihn die Hoffnung manchmal verließ. Er würde niemals so weit gehen, zu behaupten, dass Armut und Hunger, Elend, Trockenheit oder Überflutung Karma seien, Schicksal, denn der Gedanke, unfrei, festgelegt und wie von äußeren Kräften gelenkt, passiv, einer Bestimmung ausgeliefert zu sein, missfiel ihm aufs Äußerste. Aber er war heute fast so weit, nur noch mit den Schultern zu zucken. Weil man doch offensichtlich nichts tun konnte.
Er merkte, wie die Verzweiflung sich wie eine große Leere anfühlte. Als sei er mühsam eine Treppe hochgestiegen, nur um am Ende, oben angekommen, festzustellen, dass sie ins Nichts führte. Er ging zu seiner Stereoanlage. Musik würde ihm guttun. Er würde sich neue Hoffnung ins Herz singen lassen, Widerstandskraft für die Arbeit, Gnade gegen den kalten Zynismus. Er hörte, wie Bono laut sang: Grace, she travels outside of karma … Gnade, sie steigt aus dem ewigen Rad des Schicksals aus …
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