X-World. Jörg Arndt
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„Oh, Schatz, das ist ja wunderbar!“, sagte Lisa zu ihrem Sohn und schaute ungläubig zu Ron hinüber, dessen Gesicht eine rötliche Färbung annahm. Er beugte sich vor und begann, intensiv ein interessantes Detail an seinem Wurstbrot zu studieren.
„Er ist doch sonst so zurückhaltend mit anderen Kindern!“
„Ja“, sagte Ron ausweichend, „ich glaube, er hat große Fortschritte gemacht!“
„Und ich habe einen Tiger gesehen!“, rief Jonte. „Der war ganz zahm, aber als ich ihn streicheln wollte, ist er weggelaufen …“
„Wart ihr im Zoo?“, fragte Lisa verwirrt.
„Nein, in der neuen Welt, die Papa gemacht hat. Die ist super, Mama, die musst du dir unbedingt anschauen!“
Lisas Miene gefror zu Eis.
„Ich fasse es nicht“, sagte sie. „Der Junge war nicht einmal draußen, stimmt’s?“
„Doch, er war Brötchen holen“, antwortete Ron lahm.
„Ja und ich durfte mir ein Comic-Heft kaufen!“, rief Jonte dazwischen. „Ach Mama, Papa, bitte streitet euch nicht!“
Flehentlich sah er zu seiner Mutter hinauf. Sie biss sich auf die Lippen.
„Nein, nein, es ist schon gut“, sagte sie zu ihm. „Hol deine Sachen. Ich stehe im Halteverbot.“
Ihre schönen blauen Augen schossen Blitze auf Ron. Aber sie verlor kein weiteres Wort zu dem Thema. Das war auch nicht nötig. Ron wusste ohnehin, was sie sagen wollte. Als sein Sohn mit seinem Koffer wiederkam, nahm er ihn kurz in die Arme.
„Es war ein tolles Wochenende mit dir“, flüsterte er.
„Ja, Papa, das fand ich auch!“, flüsterte Jonte zurück. Dann verließ er mit seiner Mutter das Haus.
Ron war wieder allein.
3. FRANKFURT AM MAIN
Mit gemischten Gefühlen machte sich Ron Schäfer auf den Weg nach Frankfurt, wo sich der deutsche Firmensitz von Future Computing befand.
Er war stolz auf sein Werk, und das mit gutem Grund. In den vergangenen Wochen hatte er praktisch rund um die Uhr gearbeitet und dabei eine Software erschaffen, die wie maßgeschneidert zu dem Cyberhelm passte, den der Konzern auf den Markt bringen wollte. In technischer Hinsicht machte er sich keine allzu großen Sorgen, obwohl er den Mehrspielermodus nur begrenzt hatte testen können. Das würde schon alles laufen.
Bauchschmerzen bereitete ihm der Gedanke an das, was danach unweigerlich kommen musste: Verhandlungen. Ron war kein Geschäftsmann. Geld und Verträge interessierten ihn immer nur so weit, wie sie es ihm ermöglichten, in Ruhe zu leben und zu arbeiten. In wenigen Stunden aber würde er einer Gruppe von Menschen gegenübersitzen, die in dieser Hinsicht völlig gegensätzlich dachten. Geschäftsleute, die sich für Computertechnik nur so weit interessierten, wie sie ihnen Geld einbrachte.
Ron schloss die Augen und suchte nach einer bequemen Position in seinem Sitz. Die gleichmäßigen Bewegungen des Zuges ließen seine Müdigkeit überhandnehmen. In den letzten Tagen hatte er nur wenig Schlaf bekommen.
Aber es hatte sich gelohnt. Die Demo-Version war nun auf Hochglanz poliert. Sogar Sandburgen konnte man jetzt bauen, auch wenn er bezweifelte, dass hochrangige Manager daran Interesse hatten. Doch für Jonte war es wichtig gewesen. Er lächelte bei dem Gedanken an seinen kleinen Jungen und glitt in einen traumlosen Schlaf.
****
„Sie sind mal wieder dabei, Ihre Kompetenzen zu überschreiten!“, sagte der Chief Executive Officer frostig. Sein Gesicht war unbewegt, doch die schmalen Augen hinter der Brille mit dem Goldrand funkelten bedrohlich.
„Unsere Konzernleitung hat unmissverständlich klargestellt, dass diese Firma sich nicht im Softwaresektor zu engagieren gedenkt. Wir sind kein Gemischtwarenladen. Wir handeln mit Hardware. Unser Ziel ist es, den Anwendern die weltweit beste Computerperipherie zur Verfügung zu stellen, die technisch möglich ist.“
Dr. Gerhardt Fleischmann verdrehte die Augen, als sein Vorgesetzter zum hundertsten Mal aus dem Leitbild der Firma zitierte. Aber er wusste, dass Dong-Min Choi meinte, was er sagte. Die Koreaner hätten keinen treueren Vertreter ihrer Interessen in sein Land schicken können.
Er atmete langsam aus und versuchte, seine innere Ruhe wiederzugewinnen. Diese Angelegenheit ging ihm schon seit Jahren gegen den Strich. Sie saßen in den Räumen des Unternehmens, das sein Vater nach dem Krieg Stück für Stück aufgebaut hatte. Nach dessen Tod war die Leitung an ihn, den einzigen Sohn, übergegangen, und er hatte die „Prometheus AG“ über vierzig Jahre lang erfolgreich weitergeführt.
Doch dann war „Future Computing“ gekommen.
Die Koreaner hatten gezielt nach einer alteingesessenen Firma mit guten Vertriebswegen gesucht, die für eine feindliche Übernahme in Betracht kam, und waren ausgerechnet bei ihm fündig geworden. Glücklicherweise war die Mehrheit der Aktionäre ihm und seinem Vater persönlich verbunden, so dass der Konzern kein so leichtes Spiel gehabt hatte, wie es sich die Strategen ursprünglich vorgestellt hatten. Dennoch hatten die Teilhaber ihn dazu gedrängt, in die Verhandlungen einzutreten, und auch Gerhardt Fleischmann hatte schließlich einsehen müssen, dass seine Firma sich der Globalisierung auf Dauer nicht verschließen konnte.
Daraufhin hatte er beschlossen, das Beste aus der Sache zu machen und die Übernahme so weit wie möglich nach seinen Interessen zu gestalten. Im Ergebnis war er nun „CMO“ – Chief Marketing Officer – für Deutschland, und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte man wie früher einfach „Vertriebsleiter“ dazu gesagt.
Doch in vielen Punkten ging es nun nicht mehr nach seinem Willen. Er hatte zwar einen wichtigen Posten inne und war durch seinen Vertrag unkündbar, aber er hatte sich der Konzernleitung unterzuordnen, die Dong-Min Choi mit unerschütterlicher Loyalität vertrat. Manches wäre leichter gewesen, wenn das Verhältnis zu ihm nicht so unterkühlt wäre. Aber das war es nun mal, und so kam es ständig zu Auseinandersetzungen.
Dieses neue Produkt aus Korea, das nun auf den Markt kommen sollte, dieser Cyberhelm, war, soweit er es beurteilen konnte, sicherlich eine tolle Sache, aber sein unternehmerischer Instinkt sagte ihm, dass es so nicht funktionieren würde.
Choi vertrat die Ansicht, dass es in der Computertechnik einen natürlichen Regelkreislauf gäbe. Neue Hardware sorgte stets auch dafür, dass neue Software entstand, ebenso wie neue Software die Entwicklung neuer Hardware vorantrieb. Doch er selbst bewertete die Situation anders: Wenn sich ihr Helm nicht gut genug verkaufte, weil dem hohen Anschaffungspreis keine interessanten Anwendungen gegenüberstanden, dann würde sich auch keine Softwareschmiede der Welt die Mühe machen, Spiele für den Helm zu entwickeln. Das gäbe die geringe Stückzahl nicht her. Ein Teufelskreis, der dazu führen würde, dass man das Gerät wieder vom Markt nehmen müsste – mit gewaltigen Verlusten, die letztlich von der Belegschaft aufzubringen wären. Und ehe das Mutterwerk Schaden leidet, würde zuerst die deutsche Tochter geschlossen – es ging hier also um seine Firma und seine Angestellten, für die er sich nach wie vor verantwortlich fühlte.
Aber es war sinnlos.