Politik ohne Gott. Группа авторов

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ist in den letzten zwanzig Jahren aus der Mode gekommen. Die gegenwärtige Wirklichkeit wird aus der Vorvergangenheit erklärt und kulturalistisch interpretiert. Am umstrittenen »Multikulturalismus« wird dies besonders deutlich. Die verzerrte Wahrnehmung der Gesellschaft ist keineswegs auf den rechten Teil der Gesellschaft beschränkt, der die ethnisch heterogene Zusammensetzung der Bevölkerung verleugnet; auch sein linker Widerpart, der das Stichwort »Multikultur« erfunden zu haben behauptet, akzeptiert schon in diesem schlechten Begriff Herkunft und Tradition als Schlüsselkategorien zur Erkenntnis von gesellschaftlicher Wirklichkeit. Beide Seiten streiten sich naiv um Art und Weise einer möglichen Integration, die ein homogenes gesellschaftliches Ganzes voraussetzt. Ein an der Vergangenheit orientiertes Geschichtsbewusstsein verdinglicht Kultur zu einem ontologischen Begriff, der von der herkömmlichen Religion durchdrungen und legitimiert wird.

      Der 11. September 2001 hat den Prozess verzerrter Wahrnehmung von Gesellschaften globalisiert. Samuel Huntingtons grobschlächtige Theorie »clash of civilizations« wurde noch einmal trivialisiert und sackte ins Alltagsbewusstsein ab. Die Fiktion schien realitätsmächtig zu werden, dass sich weltweit der Islam und der (christliche) Westen, das gute alte Abendland, gegenüberstünden. In einem Titanenkampf der Werte, selbst eine verdinglichte Kategorie, müsse der unheroisch gewordene Westen seinen Mann stehen – diese Weltsicht setzte sich in den Köpfen der Medienkonsumenten nicht nur im Westen durch. Der 2005 von den Medien provozierte und von islamistischen Gruppen geschürte Streit um die Mohammed-Karikaturen zeigte die neue Aufteilung der Welt in Christen und Muslime. Nur Indien, China und Japan passen nicht in diesen Manichäismus. Also rechnet man China und Indien einfach zum Anti-Westen, Japan zum Westen, weil es im Kalten Krieg politisch zum Westen gehörte. Die neue religiöse Zauberformel geht überhaupt nicht auf, übt aber enorme Anziehungskraft aus. Menschen bezeichnen sich inzwischen als Christen, die das letzte Mal bei ihrer Taufe in der Kirche waren und den Unterschied zwischen Altem und Neuem Testament nicht benennen können. Ihr defizitäres religiöses Wissen misst sich an einem phantasierten machtvollen Islam, dem jeder Mensch zugerechnet wird, der irgendwie mit einer Herkunft aus Ländern geschlagen ist, in denen viele Moscheen stehen. In dieses Modell passt auch das fiktionale Selbstverständnis von einem christlich-jüdischen Abendland, das schlicht tausend Jahre Judenfeindschaft und Antisemitismus verleugnet.

      Auf die Säkularisierung hatten die Erben der Französischen Revolution im 19. Jahrhundert, dem sogenannten »long century« (1770 – 1914), große Hoffnung gesetzt. Kaiser Napoleon machte in seinem Machtkampf mit der katholischen Kirche mit der Säkularisierung ernst. Er enteignete den größten Grundbesitzer Europas, der überall mit den feudalen Mächten im Bunde war. In den meisten modernen bürgerlichen Gesellschaften entbrannte in diesem langen Jahrhundert ein Kulturkampf zwischen Laizismus und Kirchentreuen, der mit meist faulen Kompromissen endete, die in der zweiten Hälfte des sogenannten »short century« (1917 – 1989) wieder aufgekündigt wurde, als eine Welle des Fundamentalismus – von den USA ausgehend – einen weltweiten »backlash« mit antimodernen Antlitz auslöste. Der Evangelikalismus schrieb vor allem den Kampf gegen die Abtreibung auf seine Fahnen, die Homoehe wirkte auf die Evangelikalen wie ein rotes Tuch. Die katholische Kirche fühlte sich von ultrakonservativen Abspaltungen bedroht und sah sich gegenüber dem Evangelikalismus ins Hintertreffen geraten. Im größten katholischen Land der Welt, Brasilien, schrumpft der katholische Einfluss, die neuen pentecostalen Kirchen haben wachsenden Zulauf und sammeln Millionen – Anhänger und Reais. Mit diesem Geld und den gekauften Stimmen lässt sich enormer Druck auf den Gesetzgeber ausüben. Massenmediale Kreuzzüge im christlichen Gewand bedrohen die mühsam errungenen Freiheitsrechte, die formalen Voraussetzungen eines selbstbestimmten Lebens.

      Um das Missglücken der Säkularisierung erkennen zu können, muss man einen selbstkritischen Blick auf die europäische Gesellschaftsgeschichte zurückwerfen. Der falsche Stolz, besonders gegenüber der islamischen Welt, man habe im Gegensatz zu ihr eine Reformation, Aufklärung und Säkularisierung durchgemacht, behindert eine gesellschaftskritische Erkenntnis in die Dialektik der Aufklärung, die auch die Geschichte der Säkularisierung bestimmt. Wer Aufklärung nur im umgangssprachlichen Sinne als einen Bildungsprozess zwischen Individuen versteht, wird ihrer Dialektik nicht auf die Spur kommen. Als materialer Prozess entzaubert Aufklärung die Welt. Von der Religion bleiben ihres religiösen Gewandes entkleidete Werte übrig, die schon sprachlich bei der zentralen ökonomischen Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft Anleihe nehmen – am Wert. Das Werk des neben Durkheim größten Soziologen der bürgerlichen Gesellschaft, Max Weber, wird von einem heroischen Duktus bestimmt: Gegen die Entzauberung der Welt ist kein religiöses Kraut gewachsen; in Gestalt einer allumfassenden Rationalität wird die Säkularisierung sich durchsetzen und ein neues Zwangsgebäude schaffen – ein »stahlhartes Gehäuse« der Hörigkeit. Nicht das Tor der Emanzipation steht am Ende der bürgerlichen Epoche, sondern der gnadenlose Knast eines arbeitsteiligen, gottlosen Fachmenschentums. Diese geschichtliche Perspektive eröffnet einem neuen Irrationalismus Tür und Tor: Ein neuer säkularisierter Glaube an Charisma und Dezisionismus nimmt in Webers Soziologie das »kurze Jahrhundert« vorweg.

      Das lange 19. Jahrhundert lehrt den Nachgeborenen das Schwinden der Religion; es geschieht in jeder Gesellschaft auf vergleichbare, doch unterschiedliche Weise. Die objektive Bedeutung der Religion bestand im christlichen Europa in ihrem institutionellen Charakter – sie war nicht nur Glaubens-, sondern auch eine Herrschaftsform, die Heiden und Juden auch aus ihrer weltlichen Hierarchie ausschloss. Die deutschen Lande als Hauptschlachtfeld der Religionskriege ließen nur den faulen Kompromiss des Territorialfürstentums zu – »eius regio, cuius religio«. Von wegen christliches Abendland, kleinstaatlicher Flickenteppich! Zum Ärger der Päpste hatten sich die englischen Könige längst eine Nationalkirche geschaffen, die der Politik untergeordnet war – dieser Säkularisierungsprozess war eine wesentliche Voraussetzung für den Durchbruch der bürgerlichen Gesellschaft im United Kingdom, begleitet im 17. Jahrhundert vom Bürgerkrieg und der englischen Aufklärung, die für Voltaire zum Vorbild der französischen wurde. Sein »Écrasez l’infâme!« bezeichnet die Frontstellung der Aufklärung gegen die feudale Organisation der Kirche, die mit der staatlichen Form der Herrschaft konkurriert. Im Land der Französischen Revolution hat der Laizismus keineswegs gesiegt. Die fundamentalste Opposition schlägt dem Präsidenten im Jahre 2014 mit massenhaften Protesten gegen die Homoehe ins Gesicht.

      Aber geht es denn Deutschland besser? Vor vierzig Jahren war »Laizismus« ein ebenso unbekanntes Fremdwort wie »Identität«, das einem jeder Redakteur aus dem Manuskript gestrichen hätte. Kein Lehrer wäre damals auf die Idee gekommen, seine Schülerschaft in christliche und muslimische aufzuteilen. Die Arbeitsmigranten wurden nach ihrer Herkunft sortiert, nicht nach Religion und Kultur. Das war grob, aber nicht ganz falsch: Jugoslawen, Türken, Italiener, Spanier … Die schlimmste politische Sünde dieser Zeit bestand in der Verleugnung Deutschlands als eines Einwanderungslandes. Es ließ sich in der Illusion leben, Deutschland wäre säkular. Der Blick auf den Steuerbescheid hätte einen schon eines Besseren belehren können: Kirchensteuer. Aber auch Kirchenaustritt erspart einem nicht, an den Kosten der Säkularisierung beteiligt zu werden. Der angeblich säkulare Staat finanziert Bischöfe und gewährt Steuervergünstigungen, die als Entschädigungszahlungen für die Enteignung kirchlichen Grund- und Bodenbesitzes seit über zweihundert Jahren gerechtfertig werden.

      Ein bewusster laizistischer Kampf ist, anders als in Italien und Frankreich, in Deutschland nie geführt worden. Der Kulturkampf hatte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts am Gegensatz von lutheranischem Christentum als preußischer Staatsreligion und katholischem Süden nach der Reichsgründung 1871 entzündet. Die Modernisierung der deutschen Gesellschaft führte zu einer massiven Entchristlichung der Bevölkerung, aber nicht einmal in der Weimarer Republik zu einer konsequenten Säkularisierung. Bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten galt Deutschland als das am wenigsten christliche Land Europas. Das Verhalten der Kirchen im Nationalsozialismus lässt sich nur als schändlich und opportunistisch bezeichnen. Die wenigen mutigen Mitglieder der Bekennenden Kirche blieben schrecklich isoliert und wurden nach dem Krieg von der offiziellen Kirche stiefmütterlich behandelt, wenn nicht gar verleugnet. Als Spezialinstitutionen für Schuld und Sühne wurden die evangelische und katholische Kirche nach 1945 in Westdeutschland

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