Die Zeit auf alten Uhren. Gerhard Köpf

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Die Zeit auf alten Uhren - Gerhard Köpf

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Gerhard Köpf Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

      Zitat

      Was war, kehrt zurück, klopft an unsere Tür,

      unverschämt, flehend, einschmeichelnd.

      Oft trägt es ein Lächeln auf den Lippen,

      aber dem darf man nicht trauen, es ist ein trügerisches Lächeln.

      Und in der Zwischenzeit leben oder schreiben wir,

      was ein und dasselbe ist,

      in dieser Illusion, die uns leitet.

      Antonio Tabucchi: Der schwarze Engel

      Das Blaue Land (1)

      Im Anfang war das Nest, und das Nest war bei Gott, und Gott war das Nest.

      Am Nest kann man erkennen, welcher Vogel darin wohnt. Es war Winter, und meine Eltern lagen in ihrem frisch gemachten Nest und verzehrten gemeinsam einen Bratapfel, der Appetit machte auf mehr. So krochen sie unter die Decke und zeugten mich. Das war kurz nach dem Krieg in einer kalten Januarnacht, in der sie gar nicht anders konnten, als sich eng aneinander zu schmiegen und liebevoll zu wärmen. Geboren wurde ich in der Zeit um Maria Geburt herum, wenn die Schwalben wieder fortziehen. Der September, in dem ich ankam, ist ein schöner Abschiedsmonat. Er lehrt uns das verglimmende Sommerglück, unter seiner Sonne beginnen die Blätter allmählich ihre Färberei. Das Licht bekommt dann einen Stich, weil das Jahr seine ersten Schritte auf den Winter zu tut. Und bald ist wieder Bratapfelzeit.

      Das Land, aus dem ich stamm', hieß einst das Blaue Land, weil Flachs dort Leinewebern Brot und Arbeit gab. Illyrer aus dem Balkan siedelten zuvor, und ihnen folgten Vindeliker, Estionen und Likatier, bis Drusus und Tiberius das Recht mit ihren Schwertern schrieben. Der Griechengeograph Strabon schon kennt die Garnisonstadt Cambodunum, eh' Alemannen und Sueben den Limes stürmten und der Stadt dermaßen zusetzten, dass Odoakar seine letzten Römer abzog, um Platz zu schaffen für das Siedlungswerk der Alemannen, die sich, geschickt dem Zeitgeist angepasst, der Christianisierung nicht verschlossen, wovon noch heute Ottobeuren kündet. Die Albigaue, von der Sankt Galler Mönche schrieben, unterwarfen sich als Albigoi den Staufern und den Welfen, um Reichsstädte blühen zu lassen wie Leutkirch, Memmingen, Kaufbeuren, Kempten sowieso. Nach Konradin, dem letzten Staufer, den Karl von Anjou im Alter von gerade einmal sechzehn Jahren auf der Piazza del Mercato zu Neapel öffentlich enthaupten ließ, rissen der Bischof von Augsburg, der Fürstabt von Kempten, Reichsstifte, Städte, Grafen und Ritter das Blaue Land an sich. Der Schwäbische Bund schloss die Reichsstädte zusammen, zu Lindau wurde Reichstag gehalten, doch dann brach von Isny her der Bauernkrieg über Herr und Knecht herein, dessen Zwölf Artikel heute als erste Niederschrift der Menschenrechte in Europa gelten. Luthers Lehre spaltete mehr, als sie vereinte, und Kempten, Kaufbeuren und Memmingen wurden protestantisch. Der Augsburger Religionsfriede währte nicht lange, denn schon brachte der Dreißigjährige Krieg Hunger, Elend und schwere Not, zumal der Schwed' das Stift zu Kempten besetzte und nicht wenig wütete, bis er bei Nördlingen geschlagen wurde. Spanische Erbfolgekriege setzten weitere Belagerungen und Verwüstungen in Gang, und gegen Ende des 18. Jahrhunderts, in dem Goethe geboren wurde und Schiller und Hölderlin und Kleist, erreichte die Vereinödung des Blauen Landes ihren Höhepunkt. Jetzt machte sich der Franzos' breit. Dem unbeugsamen Willen Napoleons gemäß wurde das Land zweigeteilt in eine württembergische und eine bayerische Hälfte, indes der Anschluss an den Schienenstrang zur großen Welt in jenem Jahr geschah, da andernorts bereits die Hamburg-Amerika-Linie gegründet wurde, die Firma Krupp nahtlose Räder aus Gussstahl fertigte und die Blaue Mauritius ausgegeben wurde, die jedoch nicht aus dem Blauen Land stammte, obgleich es der Name vermuten lassen könnte. Spinnereien und Webereien entstanden dortselbst zuhauf, bis sich der Wind drehte und aus dem Blauen Land das Grüne Land wurde mit Neuschwanstein, Vieh- und Milchwirtschaft und ersten Sommerfrischlern. Das hielt sich tapfer mit der Butter- und Käsebörse zu Kempten, bis aus dem Grünen Land das Braune Land wurde und in Durach das Außenlager Weidach des KZs Dachau scheinbar über Nacht aus dem Boden wuchs. Schließlich zog General Patton durch das Ge-Äue und requirierte als Pferdenarr die noch verbliebenen Gäule, weil er plante, gemeinsam mit der intakt gebliebenen SS das andere Schwein namens Stalin zu schlachten, indes französische Soldateska aus dem Maghreb rund um Wangen und Isny grausamer wütete als Dschingis Khan und seine Horden. Der stille Lautenbau zu Füssen sowie die Hutmacherei zu Lindenberg sind heutzutag' fast nur noch museal. Jetzt wird hinter Nesselwang nach Erdgas gebohrt, und aus dem Blauen Land soll so etwas wie Klein Texas werden, als auf Reata noch die Ölquellen sprudelten und James Dean bei den Giganten seine schwarze Dusche nahm.

      Das deckt sich ungefähr mit einer Weissagung meines Vorfahren, des Falkenstein-Sepp, der einmal prophezeit hat, das Blaue Land sei ein Billabong. Natürlich wusste keiner, was das sein sollte: ein Billabong, und man glaubte, der Sepp habe wieder einmal einen Zapfen. Doch der weitgereiste Mann und vormals königliche Kutscher klärte uns auf: Billabong sei ein Wort aus der Sprache der Aborigines. Diese bezeichneten damit ein Loch in einem Flusslauf, das sich in der Regenzeit mit Wasser fülle und während der Dürre wieder austrockne. Da so ein Billabong aber meistens nur eine von wenigen Wasserquellen in der näheren und weiteren Umgebung sei und oft länger Wasser führe als der Fluss selbst, werde der Billabong von Mensch und Vieh gleichermaßen genutzt. Und genau so verhalte es sich auch mit dem Blauen Land. Auch dort werde jedes Loch genutzt, wofür Nesselwang das beste Beispiel sei.

      Doch wenden wir unseren Blick zurück in jene Tage, da von Kaiser Augustus der Befehl erging, eine Straße zu bauen, welche die Adria mit der Hauptstadt der Provinz Raetien nördlich der Alpen verbindet. Die Via Claudia Augusta wurde eine der der wichtigsten Verkehrsadern zwischen Oberitalien und dem westlichen Voralpenland und führte von Feltre über Trient, den Reschenpass, das Oberinntal und den Fernpass, vorbei am Heiterwanger See, über Reutte, Füssen, weiter am Lech entlang über Altenstadt, Landsberg und Königsbrunn nach Augsburg. Auf dieser Route zogen einst auch die Morituri nach Rom. Instand gehalten wurde sie von meinen Vorfahren, den Benefiziariern, einer aus pensionierten Legionären und begnadigten Gladiatoren gebildeten Straßenwacht, die ebenso für die Pflege der Wege sorgte wie für die Sicherheit der Reisenden. Entlang der Strecke entstanden Gasthäuser und Poststationen für den Pferdewechsel. In solch einem Haus in der Provinz Raetia, wie das Allgäu auf Latein heißt, wurde ich nicht weit von Cambodunum geboren, und aus dieser Station an der Via Claudia Augusta stammt auch diejenige, von der hier ebenfalls die Rede sein soll. Ich streiche das deshalb ein wenig heraus, weil wir bekanntlich immer den Geist der Mauern annehmen, die uns umgeben.

      So wuchs ich auf, und meine ostpreußische Tante Mirtel, die mich nach dem Tod meiner Eltern aufzog, hat mich schon als Kind ermuntert, auf der Römerstraße mit Eimer und Schäufelchen nach alten Tonscherben zu graben. Anhand dieser Trasse lehrte sie mich, dass Geschichte etwas anderes ist als die Summe von Jahreszahlen. Seit jenen Tagen gilt meine Aufmerksamkeit dem, was vom Karren fällt. Aber der Karren selbst war natürlich nicht weniger interessant. Und deshalb hieß das Lieblingslied meiner Kindheit

      „Rirarutsch,

      wir fahren mit der Kutsch'.

      Die Kutsche hat ein Loch.

      Wir fahren aber doch.“

      Meine Vorfahren waren Kutscher und Postillione, geheiratet haben sie Sattlerstöchter und Mädchen aus Stellmachereien. Ihre Gespräche drehten sich um Felgen, Speichen und Naben, und ihre Flüche galten den Wegen, den Schlaglöchern, dem Morast, mitunter den Fahrgästen, den weiblichen zuerst, meistens aber den Wegelagerern, den Strauchdieben, Landstreichern und sonstigem lichtscheuen Gesindel. Erwischte man einen von denen, so hängte man ihn auf. Bei jedem Wetter saßen meine Ahnen im Freien auf dem Kutschbock,

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