Die Zeit auf alten Uhren. Gerhard Köpf

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Die Zeit auf alten Uhren - Gerhard Köpf

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Verlorene möchte wiedergefunden, will neu erschaffen und sich selbst zurückgegeben werden: aufgelesen auf einer langen Wanderung entlang der Strecke im Nebel, einer zügellosen Reise über den Schnee, in der flimmernden Erwartung, unter einem unbegreiflich hellen Himmel mit erhabenem Stolz einzusinken, und keiner würde wissen, wie tief.“

      Anna Kolik schloss sanft das Buch und wandte sich ab, dem Fenster zu, sah hinaus und schwieg. Über mir hörte ich Schritte, jemand ging durch den Flur des aufgelassenen Bauernhofes, die dunkle Holzstiege hinauf, vorbei an den Regenmänteln und Lodenumhängen, eine Tür schlug: Der Wegemacher und Straßenwart Hans Nicolussi kehrte nach Hause zurück. Ich nahm dies als willkommenes Zeichen und schlich mich auf leisen Sohlen davon. Anna Kolik stand gedankenversunken noch immer am Fenster, hielt sich das Tuch vor den Mund und hatte weite Augen, sehr weit.

      Walburg

      Einmal, manchmal auch zweimal in der Woche kommt eine Frau namens Walburg in das Haus meiner Tante Mirtel, um aufzuräumen, mit dem Staubsauger durch die Räume zu fahren und die Wäsche zu waschen. Die Walburg ist eine Stille, eine ganz Bescheidene, die nicht viel Aufhebens von sich macht. Und sie ist fleißig, weswegen sie bei meiner Tante einen Stein im Brett hat.

      Walburg stammt aus Nesselwang, sie ist Kaspars Frau und Mutter der Söhne Luis und Baptist und Firmian, welcher zur See fahren wird. Walburgs Lieblingslied ist das Lieblingslied des Prinzregenten Luitpold: „Fein sein, beinander bleib'n“. Fein sein, beinander bleib'n. Das wollte Walburg immer. Sie ist ihrem Mann eine brave Frau und den Söhnen eine gute Mutter. Walburg kennt die Arbeit, nie hat sie einen Bogen um sie geschlagen, nie ist sie ihr ausgewichen, schon als Kind ist sie mit den anderen neun Geschwistern dem Vater zur Hand gegangen, hat ihm das Zaumzeug gehalten, das Leder eingefettet und als Älteste nach dem frühen Tod der Mutter den Haushalt geführt und die Geschwister großgezogen. Die Walburg ist dünn wie ein Stecken, aber sie kann zupacken. Es macht ihr nichts aus, im Bahnhofhotel in der Küche zu helfen, es macht ihr nichts aus, bei fremden Herrschaften zu putzen oder zur Verstärkung geholt zu werden, wenn ein Fest gefeiert wird, um aufzutragen und abzuspülen. Jeden Pfennig legt sie auf die Seite, jeden Groschen liefert sie bei Kaspar ab, der sich den Bau eines Häuschens in den Kopf gesetzt hat: Fein sein, beinander bleib'n.

      Und weil ich die Walburg gern habe, weil sie immer gut zu mir ist, frage ich eines Tages meine Tante, was es mit der Walburg auf sich hat. Die Tante aber vertröstet mich zuerst, weil ich jedoch nicht locker lasse und immer wieder frage und bohre, erzählt sie mir eines Abends aus ihrem Lehnstuhl heraus bei einem Zigarillo Walburgs Geschichte:

      Die Geschichte von Walburg beginnt lange vor dem Krieg. Da sucht nämlich der Leiter des Reichsarbeitsdienstlagers drunten im Meilinger Bad an der Vils eines Tages eine zuverlässige Kraft für das, was so anfällt an Wäsche von seinen Männern. Die Walburg rechnet im Kopf schnell nach, macht ein Angebot und erhält sogleich den Zuschlag. Schon wird im Hof des Bahnhofrückgebäudes ein großer Kessel mit Ofenrohr aufgestellt, schon schichten die Söhne Luis und Baptist und Firmian das Schürholz auf, schon wächst die Holzbeige, schon wird die Waschküche hergerichtet für die schmutzige Wäsche aus dem Lager.

      Meine Tante Mirtel erzählt, wie der erste Lastwagen heran rollt, wie die Männer in ihren Knobelbechern von der Ladefläche springen, wie sie Körbe prallvoll mit Unterhosen und Unterhemden, Jacken, Socken, Leibchen und Pullovern, Uniformblusen und Sonntagshemden vom Lkw hieven, indes Walburg ein Seil spannt kreuzquer über die Wiese. Die Frau füllt den großen Kessel Schaff um Schaff, bereitet eine Lauge, heizt und schürt, bis die Lauge kocht, in die sie die Schmutzwäsche wirft, um mit einem schon ausgebleichten breiten Holz langsam umzurühren und die einzelnen Stücke aus dem brodelnden Laugenwasser zu holen. Nie hat es ihr bislang etwas ausgemacht, anderer Leute Dreck aufzuräumen oder fremder Leute Wäsche zu waschen. Aber als sie die verstunkenen Fußlappen des Arbeitsdienstes in die Nase bekommt, als diese Beize aufsteigt und sich einfrisst, da spürt sie einen Widerwillen, da muss sie schlucken, dass es ihr nicht hochkommt, zwei-, dreimal muss sie schlucken und schlucken, dass es sie nicht würgt. Von der ersten Wäsche an widersteht ihr alles, was mit dem Reichsarbeitsdienst zusammenhängt. Aber sie traut sich nicht, es Kaspar, ihrem Mann, zu sagen. Sie glaubt, das sei nur eine Empfindlichkeit, die ihr nicht zustehe, sie denkt an den Wäschepfennig und was sie bekommt pro Kilo und daran, wie der Pfennig in das Häuschen wandert, das Kaspar mit Hilfe seiner Söhne bauen will: Fein sein, beinander bleib'n. Zeitweilig nimmt das Häuschen die Form einer Sparbüchse an, aber das ist der Walburg bloß recht. Sie weiß genau, was ihr Hausvorstand hält von Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit und dass man es damit zu etwas bringen kann, wenn man nur will. Deshalb schluckt sie und versucht, nicht länger an die Fußlappen des Arbeitsdienstes zu denken. Sie will sich die Männer auch gar nicht vorstellen: weder bei ihrer Arbeit noch abends, wenn sie die verschwitzten Füße lüften, die Socken ausziehen, Tarock spielen und ab und zu mit den Fingern zwischen den Zehen popeln oder die Fußnägel wegreißen.

      Nein, sagt meine Tante Mirtel, das will sich die Walburg gar nicht erst ausmalen, weil sie sonst sofort wieder schlucken muss, und das will sie nicht, weil sie die Socken wegen des Häuschens waschen muss, weil sie die verseichten Unterhosen in die Brühe tauchen muss, weil sie die Wäsche aufhängen muss auf der Leine hinter dem Haus, Tag für Tag, für das Reichsarbeitsdienstlager, wegen des Häuschens, das da auch an der Leine hängt und im kochenden Kessel schwimmt wie die Hemden und die Fußlappen mit ihrem beizenden Geruch, der nicht mehr aus der Nase will: als wäre sie Fischverkäuferin. So stellt sich Walburg eine Fischverkäuferin vor: die Finger eisblau und ewig stinkend. Ewig. Aber die Walburg will keine Fischfrau sein. Wenn sie die schmutzige Wäsche gewaschen hat, will sie den Gestank der Fußlappen nicht aus der Waschküche in die Wohnung tragen, sie will nicht das Essen damit berühren, das sie ihren vier Männern kocht, wie sie gerne sagt. Es soll ihr keiner anmerken, wie sehr ihr die Wäscherei widersteht, wie ihr zuwider ist, was sie da auf sich genommen hat, bloß weil es in dem schönen Lied heißt: Fein sein, beinander bleib'n. Wieviele Dachziegel kann man vom Waschpfennig kaufen, wieviele Kilo Rafennägel, wieviele Schalbretter? Obgleich die Pläne für unser Oma ihr klein Häuschen immer schmächtiger werden und bescheidener, denkt die Walburg beim Umrühren des großen Kessels gerne daran, wie sie die Küche einrichten wird, wo das Sofa stehen soll, die Gautsche, wie man bei ihr daheim in Nesselwang dazu sagt, welches Bild über dem Ehebett hängen soll, ob es unser Herr am Ölberg ist oder die Darstellung der Muttergottes mit dem Schwert in der Brust.

      Meine Tante Mirtel malt mir mit Worten die Walburg, wie sie sich auf der Veranda sitzen sieht in einem Korbstuhl, wie sie Wolle aufwickelt, um einem der Buben einen Janker zu stricken, wie sie mit besonderer Aufmerksamkeit auf Firmian blickt, weil er so unruhig ist, immer ein Treibauf und jäh und gach, denn die Walburg kann nicht wissen, dass Firmian eines Tages Schiffsoffizier und der Herr der sieben Meere werden wird.

      Auch bei Regenwetter muss für den Reichsarbeitsdienst gewaschen werden. Zweimal die Woche fährt der Lkw vor und lädt ab, zweimal die Woche wird einer Frau schlecht vor dem Aufheizen des Kessels, der nur im Sommer im Freien steht, im Winter aber zwischen anderen seifenbleichen Schäffchen und Kübeln in der Waschküche, in der es nie richtig trocken wird, so sehr die Walburg auch lüftet. Kaspar hackt nach Feierabend das Holz, spaltet die Scheiter für den Waschkessel, während er die Söhne dazu anhält, sauber und ordentlich die Holzbeige zu errichten, denn Ordnung muss sein, wo kämen wir da sonst hin bei der Eisenbahn, bei der Kaspar beschäftigt ist, der er seine Seele verkauft hat.

      Und immer wieder muss Kaspar auf seine Schweizeruhr schauen, immer will er, der Eisenbahner, wissen, wie spät es ist, immer muss er auf Zeiger und Zifferblatt starren wie ein Firmling und seine Söhne heimlich stoppen: welcher braucht am längsten für das Aufschichten des Kleingehackten, welcher macht es am ordentlichsten? Keine Frage: Es ist unser Baptist. Unser Baptist macht immer die schönsten Holzbeigen. Immer braucht er den Vater. Immer muss er gesagt bekommen, was er zu tun hat. Immer tut er, was der Stärkste von ihm verlangt. Walburg sieht mit Stolz und ein wenig Entsetzen, wie ängstlich ihr Baptist ist und wie ordentlich. Warum kann er nie für das geradestehen, was er getan hat? Warum muss er sich immer nach den anderen richten?

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