Die Zeit auf alten Uhren. Gerhard Köpf

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Die Zeit auf alten Uhren - Gerhard Köpf

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verwandeln.

      Ihre letzte, wahrhaft große Szene hatten die Damen Vogelsang, als mit mächtigem Pomp, vielen Kreuzen und noch mehr Fahnen der Geistliche Rat Köberle zu Grabe getragen wurde. Er starb in jenem Sommer einen ihm durchaus angemessenen Tod, ganz im Gegenteil zu dem Bergführer Rindfleisch, der zwar die steilsten und gefährlichsten Gipfel der Heimat erklommen hatte, in einer Winternacht aber, als er gut abgefüllt aus dem „Adler“ gewankt und ihn inmitten der prächtigen weißen Winterlandschaft mit ihrer meterhohen Schneedecke ein Bedürfnis angekommen war, dem er auf der Stelle nachgab. Zu seinem Unglück freilich war ihm die Natur justament mitten auf dem verschneiten Bahngleis gekommen, und da der Schnee bekanntlich nicht nur alles zudeckt, sondern auch jedes noch so kleine Geräusch schluckt, hatte der in archaischer Hocke befindliche Rindfleisch, der Gipfelstürmer mit herabgelassener Hose, vermutlich aus wetterfestem Trenkercord, den letzten Schienenbus aus Tirol nicht kommen gehört, und auch der Lokführer hatte, seiner späteren Aussage zufolge, bei dichtem Schneefall die zusammengekauerte, yetihaft schneeumwehte Gestalt zu spät erkannt und nicht mehr rechtzeitig bremsen können. Meine eilends herbeigerufene Tante konnte nur noch beim Zusammensuchen der weithin verstreuten Rindfleischreste helfen, wohingegen sie beim Geistlichen Rat Köberle, zu dem sie von dessen Zölibatesse gerufen worden war, durchaus noch ihre ärztliche Kunst anwenden musste, denn der geweihte Herr war, nachdem er mit eben jenem letzten Zug aus dem Tirol gekommen war, der schon dem Bergführer Rindfleisch zum Verhängnis geworden war, und unter Absingen seines Dreigesangs von „Die Wacht am Rhein“, „Meerstern, ich dich grüße“ und „Völker hört die Signale“ glücklich schwankend seinen Pfarrhof erreicht hatte, schließlich im Vollrausch bei der letzten Inspektion seines stolzen Viehbestandes vom Heustock gefallen.

      Seinerzeit gehörte zum Pfarrhof noch eine eigene bescheidene Landwirtschaft mit zwei, drei Kühen, einer Handvoll Hühner, ein paar Streuobstwiesen und moorige Heuschläge. Besorgt wurde diese Ökonomie von der Pfarrhaushälterin, zumeist eine leibliche Schwester oder nähere Verwandte des hohen Herrn. Der Geistliche Rat Köberle pflegte täglich am Nachmittag mit dem Zug nach Tirol zu fahren, bis zur ersten Station nach der Grenze mit dem einladenden Namen Schönbichl. Die Station bestand aus einem Wirtshaus, in dem jener Südtiroler Rote ausgeschenkt wurde, der Köberle immer mehr und mehr und noch mehr mundete. Wenn es im Himmel keinen Südtiroler Roten gebe, soll er gerne gesagt haben, dann pfeife er auf die ganze Seligkeit. Mit dem letzten Zug ging's dann nach bester geistiger Abfüllung zurück. Und da der Geistliche Rat Köberle ein gewissenhafter Mann war, wollte er in der Nacht noch nach dem Vieh sehen, hat aber wohl unter dem teuflischen Einfluss des Alkohols das Stockwerk verwechselt, hat, vom Gottseibeiuns ge- und verführt, die falsche Tür geöffnet und ist mit seinen gut zwei Zentnern Fastenpredigerkampfgewicht den Gesetzen der Schwerkraft folgend und möglicherweise begleitet von einer letzten mit Stentorstimme geschmetterten Anrufung aller Heiligen auf dem Steinboden der Tenne gelandet und hat sich das Genick gebrochen, wie mein Tante medizinisch fachkundig diagnostiziert hat. Da lag nun unser Monsignore in seinem Blute, das farblich vorzüglich zu der Farbe der rot paspelierten Knopflöcher seiner Soutane passte: ein Phänomen, das unter uns Messdienern ohne spezielle medizinische Vorkenntnisse schlicht als Knopflochentzündung bekannt war.

      Bei der Beerdigung war das gesamte Blaue Land auf den Beinen. Meine Tante, die den Totenschein ausgestellt hatte, durfte nicht fehlen. Sie führte als Fahnenjunker, flankiert von zwei weißbärtigen Adjutanten, die Ehrenformation des Veteranenvereins an, denn auch sie hatte am Krieg teilgenommen. Gleich nach der leiblichen Schwester des Toten und den Geistlichen Würdenträgern der näheren und weiteren Umgebung kamen die Nonnen, von denen jede für sich schon physiognomisch ein eigener Trauerzug war. Dann folgte die Abordnung des Katholischen Frauenbundes. Sie wurde von niemand anderem angeführt als von den Damen Vogelsang, die nicht nur quer über ihre wallenden schwarzen Gewänder eine gestärkte, überbreite schwarze Schärpe trugen, sondern auch noch am linken Oberarm einen seidenen Trauerflor im Winde wehen ließen, der mit einer ebenso opulenten wie kunstvoll geknüpften Schleife versehen war. So sehr waren diese drei Damen, die man auf der Stelle für die Vorsitzenden der Zölibatessengewerkschaft hätte halten können, in die Geschehnisse des Blauen Landes verstrickt, dass es nahezu unvorstellbar gewesen wäre, die Leiche des Geistlichen Rates Köberle ohne deren vom Weihrauch großer Tragödien und pompöser Schicksale getränkte Anteilnahme mit sechs Böllerschüssen in die Ewigkeit zu schießen: sechs Schüsse deshalb, weil Köberle, ein Thulserner von altem Schrot und Korn, beide Weltkriege aktiv erlebt hatte – also drei Schuss pro Weltkrieg. Das war das Optimum. Mehr gab es nicht. Nicht einmal für Träger des EK I.

      Das galt aber nur für Beerdigungen. Der Sommer, in dem Monsignore Köberle vom Heustock direkt in die Ewigkeit fiel, war auch der Sommer einer großen Entdeckung. Zusammen mit einigen Schulkameraden fand ich nämlich ein hübsches Waffenlager, das uns die SS zur Verfügung gestellt hatte, ehe sie sich der Übermacht unter Panzergeneral Patton ergab. Genauer gesagt handelte es sich um einige Kisten mit Karabinern, Handgranaten, MG-Munition und einer Panzerfaust. Da wir uns für ausgewiesene Waffenexperten hielten und jeder den anderen mit noch genaueren Kenntnissen über die Handhabung übertreffen wollte, versuchten wir zunächst, die Handgranaten beim Forellenfischen einzusetzen. Den Ring ziehen, bis drei zählen, werfen. Die jeweils entstehende Wasserfontäne war in jedem Fall höher als der anglerische Ertrag. Bei den Karabinern stellten wir zu unserem größten Bedauern fest, dass deren Repetier-Schlösser eingerostet waren. Blieben nur noch die Panzerfaust und die MG-Munition. Aufgrund einer unverzeihlichen Indiskretion seitens eines geschwätzigen Kameraden, der sich wichtigmachen wollte und den Mund nicht halten konnte, gelangte das Geheimwissen jedoch an meine Tante Mirtel, die sogleich die SS-Rückstände requirierte und wegsperrte, uns in einer Reihe antreten ließ und uns anfänglich ganz leise, schließlich aber mit unglaublichem Kasernenhofgebrüll zur Sau machte. Nie zuvor und auch nie mehr danach habe ich diese Frau derart in Rage erlebt. Was sie besonders herausstrich war der Umstand, dass wir soeben im Begriff waren, die MG-Munition auf einen Amboss zu legen, um unter Aufbietung aller gemeinsamen Kräfte, denn nur gemeinsam waren wir stark, den schweren Vorschlaghammer darauf hernieder fahren zu lassen. Dazu hätte Radio Beromünster den Schlager des Sommers gespielt: „Kein Land kann schöner sein“, gesungen von René Carol. Hierzu passend besonders die markante Strophe, in der es heißt: „Und in den Wäldern, da hört man's raunen, bald kommt sie wieder, die alte Zeit.“

      Mir jedoch gefiel seinerzeit „Tiritomba“ viel besser, gesungen von Margot Eskens. Bei einer Strophe musste ich stets ein wenig schlucken, wenn es hieß: „Eines Tages aber kam er nicht mehr wieder, es verklangen all die Lieder.“ Überhaupt: Margot Eskens, eine sanftäugige Zahnarzthelferin aus dem Rheinland, die nunmehr die Titelseiten der Illustrierten des Lesezirkels schmückte und deren Blick jenen nebulösen Hang zum Melancholischen verhieß, der einem in der Pubertät bisweilen so gut tut. Sie wurde mein erster heimlicher Schwarm. Margot Eskens! Das war schon ein anderes Kaliber als die Damen Vogelsang mit ihrem herben Ostsee-Charme, der vermutlich auf nichts anderem beruhte als auf einer gewissen adeligen Einfältigkeit, wie sie heute nicht einmal mehr den blaublütigen Gattinnen pomadiger Politiker zur Verfügung steht.

      Als dann die Damen Vogelsang im Spätherbst mit dem üblichen Getöse, den mehrfach vom Karren polternden Schrankkoffern, dem hektischen Suchen nach Regenschirmen und Fahrkarten und unter Anteilnahme der Blaskapelle sowie einer Ehrenabordnung der Freiwilligen Feuerwehr wieder abreisten, schwiegen auf einmal die sonst den ganzen Sommer über zirpenden Grillen, und die Schwalben, die so hoch geflogen waren, kehrten im nächsten Frühjahr ebenso wenig zurück wie die Damen aus dem Baltikum. Kein Zweifel: die drei Ladies haben sie mit sich genommen, und mit den Grillen und den Schwalben zugleich den Zauber meiner Kindheitssommer.

      Was ich damals nur dunkel ahnen konnte, kann ich heute mit hundertprozentiger Gewissheit beschwören: Solche Bäume wachsen nicht mehr. Diese mir unvergesslichen Damen Vogelsang haben sich in das Schicksalswissen, einer untergehenden Spezies anzugehören, hineingewickelt wie in ihre zahllos übereinander getragenen rosafarbenen Unterröcke und wehenden Reformgewänder. Und sie trugen dieses Wissen mit der ihnen eigenen Würde. In ihrem Stolz wussten sie, dass bald die ganze Welt über sie hinweg trampeln würde, denn mit diesen drei liebenswerten Vogelscheuchen irgendwo aus dem hohen Norden, von denen

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