Die Zeit auf alten Uhren. Gerhard Köpf

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Die Zeit auf alten Uhren - Gerhard Köpf

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und man hätte glauben können, das schmächtige Bürschlein entziffere die Buchstaben wie durch einen Nebel, aber das Beschlagen der Brille rührte vom Eifer der Lektüre, welcher die Knabenstirn über Gebühr erhitzte. Ansehen erwarb sich Furi nicht mit seiner Leidenschaft – im Gegenteil. Wenn einer sportlich eine Flasche war und weder für die Elite, die Fußballmannschaft gewählt noch aufgestellt werden konnte, dann taugte er nur noch dazu, gehänselt zu werden. Wozu wäre so ein Magermilchkrüppel auch sonst gut gewesen? Dürr, rothaarig, Brillenschlange: das genügte. Und dann auch noch diese Bücher. Also machten sich die Bauernsöhne einen Spaß daraus, Furi nach der Schule tüchtig zu verprügeln. Die Lust, den Schwachen zu peinigen, entwickelte sich zur neuen Sportart. Nur die Champions blieben dieselben, die auch den Fußball dominierten. Schon während der großen Pause hatten sie Furi aus nichtigem Grund angerempelt und ihm befohlen, sein Butterbrot in den Dreck zu werfen. Weil er sich standhaft geweigert hatte, war einem von den Größeren einfach die Hand ausgerutscht und derart heftig klatschend in Furis Gesicht gelandet, dass seine Stulle ganz ohne sein Zutun auf den Schulhof flog. Der Lehrer war dazu gestoßen, hatte Furi sogleich an den Ohren gezogen und ihm die Leviten gelesen: er solle sich schämen, derart verächtlich mit Brot umzugehen. Kinder in Afrika würden dankbar sein … Furi war gar nicht dazu gekommen, den wahren Hergang zu erklären, denn der Lehrer glaubte ihm ohnehin kein Wort. Wer blass und rothaarig war, von der Freibank kam, wer einen einarmigen Fremdenführer als Vater hatte und als Mutter eine, die Latrinen säuberte, wer sich überdies noch anmaßte, Bücher zu lesen, dem konnte man nicht glauben. Der log, sobald er sein Maul auftat. So kam es, dass Furi außer seinen Büchern keine Freunde hatte. Die Mitschüler verspotteten ihn, sie schalten ihn einen Lügner, wenn er von der Sklavenkarawane erzählte oder vom Sand des Verderbens, wenn er die Derwische tanzen ließ oder die Pyramide des Sonnengotts bestieg. Und wer lügt, dem war alles Schlechte zuzutrauen. Der Pfarrer hatte sie mit diesen Worten gewarnt: „Wer lügt, der stiehlt und kommt in d'Höll und wird des Teufels G'sell.“ Daraus folgte: Furi musste seine Bücher gestohlen haben. Aber er schwieg zu den Vorwürfen, und es gelang auch nicht, ein Geständnis aus ihm herauszuprügeln.

      Viele Butterbrote landeten noch im Dreck, und auch die Bücher nahmen Schaden, denn Furi musste auf ihnen herum trampeln, man riss Seiten heraus, ja, einige urinierten sogar darauf. Zuerst hatte Furi noch Rotz und Wasser geheult und um Gnade für seine Bücher gebettelt, doch da er nicht erhört worden war, versiegten eines Tages seine Tränen, und er sah stumm diesen Hinrichtungen zu. Sein einarmiger Vater sagte ihm, er sei selbst daran schuld. Warum könne er nicht sein wie die anderen? So schwer sei das doch nicht. Die Bücher hätten ihn verweichlicht und verdorben. Die Mutter schwieg zu alledem und zählte immer wieder ihr Haushaltsgeld. Am Abend, wenn sie ihren schwächlichen Sohn im Bett liegen sah, wenn er eingeschlafen war und sie ihm die Taschenlampe und seinen Schmöker aus der Hand nahm, um sie auf dem Nachtkästchen abzulegen, schossen ihr Tränen in die Augen. So wehrlos lag ihr Siegfried da, und die einfache Frau verstand, warum er nicht glücklich werden würde im Leben. Die Dummen würden ihn, seine Träume und Sehnsüchte, seine Hoffnungen und seine Verzweiflungen nie begreifen, und die Intelligenteren, die Glücklichen und Starken würden sich von seiner Wehrlosigkeit in Frage gestellt sehen, und beide würden ihn weiterhin quälen und an seinem Lebensglück hindern. Was kann eine Mutter in so einem Fall tun, mag sie sich gefragt und dabei eingesehen haben, dass ihr nichts anderes übrig bleiben würde, als weiterhin die Fehler zu machen, die sie bisher gemacht hatte. Von ihrem Mann würde sie keinerlei Hilfe oder gar Verständnis erwarten können. Der fuchtelte lieber mit seinem kümmerlichen Armstummelchen in der Gegend herum, lockte die Kurgäste an wie der Rattenfänger von Hameln und konzentrierte sich bei jedem neuen Sonderzug, der am Bahnhof ankam, darauf, ob nicht vielleicht eine lustige Witwe dabei war, der er mit seinem gesunden Arm und seiner kräftigen Hand, mit der er Furi die üblichen Ohrfeigen gab, das Alpenglühen näherbringen konnte.

      Dann kam der Tag, an dem die Klasse einen Ausflug machte. Das Wort dafür hieß Wandertag. Vorher gab es jedes Mal Streit um das Ziel. Die Mädchen wollten Schloss Neuschwanstein besuchen, andere zog es in den Hopferwald zu einem Lagerfeuer unter Aufsicht, die Mehrheit wollte am liebsten gleich auf den Fußballplatz. Aber jedes Mal entschied zuletzt doch der Lehrer, wohin es gehen sollte. Diesmal entschied er sich für die „Große Zwing“. So hieß eine enge Gebirgsklamm, an deren Ende ein Wasserfall aus gewaltiger Höhe von senkrecht überhängenden Wänden über Felsbänke und bizarre Gesteinsformationen in die Tiefe stürzte und in Gischt und Gebraus jeden noch so lauten Schrei verschluckte. Auf halber Höhe führte ein schmaler, in den Felsen gehauener Holzsteg durch die Schlucht und gab den Kurgästen Gelegenheit, dieses grausige Naturschauspiel aus unmittelbarer Nähe zu bewundern. Wenn unter einem der Tiefenbach brodelte und von oben die Wassermassen durch die zu jeder Tageszeit nur spärlich helle Klamm brachen, so vermittelte das dem Besucher ein wohlig schauderndes Gefühl, das ihm für einen Augenblick demonstrierte, wie klein doch der Mensch war im Angesicht der Naturgewalten.

      Die vom Lehrer zur Vorbereitung auf den Wandertag im Unterricht erzählte Legende besagte, kurz vor Weihnachten anno 1857 habe ein Jäger namens Schwarzkopf in der Nähe der Klamm einen kapitalen Hirschen geschossen, der dort, wo die Schlucht am unbegehbarsten war, in die Tiefe gestürzt sei. Es sei nahezu unmöglich gewesen, das tote Tier zu bergen, doch habe der Jäger mit Hilfe seines Jagdgehilfen, eines gewissen Seraphim, nichts unversucht gelassen und all seinen Ehrgeiz darein gesetzt, den prachtvollen Zwölfender der Klamm zu entreißen. Schließlich sei es dem tollkühnen Seraphim gelungen, sich an einer Stelle abzuseilen und sich seinen lebensgefährlichen Abstieg durch glitschigen Schnee und kaltes Eis zu bahnen, ein Seil um den Kadaver und sein Geweih zu wickeln, selbst wieder empor zum Licht zu klettern und schließlich gemeinsam mit dem Jäger unter Aufbieten ihrer gesamten Kräfte den Hirsch nach oben zu ziehen, obgleich dieser sich mit seinen Geweihschaufeln mehrfach in den armdicken Eiszapfen verfangen und beide Männer nicht nur der Erschöpfung, sondern auch der Verzweiflung nahe gebracht habe.

      Das war eine Geschichte so ganz nach dem Geschmack von Furi, weswegen er in der Nacht auf den Wandertag von schweren Träumen geplagt wurde, immer nur an den Hirsch denken musste, sich als Jagdgehilfe Seraphim sah und seinen einarmigen Vater als den Jäger Schwarzkopf. Doch jedes Mal, wenn es darum gegangen war, den Hirsch ans Licht zu zerren, war sein Traum gerissen wie ein brüchiger alter Filmstreifen, und Furi war schweißgebadet erwacht.

      „Die große Zwing“ bot zweifellos ein einzigartiges Naturschauspiel, und oft schon hatte der einarmige Fremdenführer seine Gäste dorthin geführt, sie dann aber den glitschig nassen Pfad allein durchwandern lassen und im Wirtshaus gewartet, wo er ihnen dann nach erfolgreicher Rückkehr wortreich und dramatisch die Entstehung der „Großen Zwing“ geschildert hatte, wobei er die Uhr um mehr als zehntausend Jahre zurückgestellt, von abschmelzenden Gletschern schwadroniert und mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme erzählt hatte, wie der Tiefenbach den Schrattenkalk des Engenkopfes durchsägt habe.

      Die Schulklasse brach frühmorgens auf, jeder hatte ein Rucksäcklein geschultert, in dem ein paar Pausenbrote mit Salami sowie ein lästig schwere, in den Rücken drückende Sprudelflasche verstaut waren. Man trug festes Schuhwerk und hatte einen Anorak oder eine Lodenkotze dabei, denn man war immer wieder darauf hingewiesen worden, wie nass der Weg sein und dass es überall vom Gestein herunter nässen würde, als gehe man stundenlang durch einen Landregen. Nur Furi hatte ein paar lumpige Halbschuhe an und kam daher wie ein magerer Flachländer, denn Furis Eltern konnten sich keine Bergschuhe leisten bei einem Buben, der noch im Wachstum war und dessen Füße täglich größer wurden, so dass so ein paar Bergschuhe zum einen nur in der Ecke gestanden hätten, weil Furi niemals in die Berge ging, zum anderen wären sie ihm spätestens nach einem Vierteljahr zu eng geworden, selbst wenn man sie zwei Nummern größer gekauft hätte. Aber die Halbschuhe mit ihren dünnen Sohlen, die bereits nach fünf Minuten auf dem Klammsteig gänzlich durchnässt und wie Lumpen waren, passten zu Furi und seinem erbärmlichen Erscheinungsbild, das er abgab: vor Kälte schlotternd, mit patschnassen Strümpfen, im Handumdrehen blau gefrorenen Knien und einem Fetzen von einem Anorak, der bestimmt nicht aus dem Sportgeschäft stammte, sondern aus einem Haufen von Kleiderspenden für die Caritas.

      Der einarmige Fremdenführer und die Frau, die in den Wirtshäusern die

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