Die Zeit auf alten Uhren. Gerhard Köpf

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Die Zeit auf alten Uhren - Gerhard Köpf

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Besuch des Bischofs, bei der Firmung, an Kirchweih, an Allerheiligen, und im Advent, zu Weihnachten, Ostern und Pfingsten sowieso. Geleitet wurde der Chor von Schwester Hiltgardis, der Organistin, die, wie es hieß, einmal Musik studiert hatte, ehe sie ins Kloster eingetreten war. Jedenfalls beherrschte sie eine Unzahl von Instrumenten und konnte auf der Quetschkommode ebenso spielen wie auf der Kirchenorgel, der Geige oder dem Alphorn. Hiltgardis nahm von nun an Annla unter ihre Fittiche, und Annla, die zuerst noch misstrauisch war, an den Nägeln kaute und trotzig schweigsam Löcher in den Boden stierte, fasste schließlich doch zaghaft Zutrauen, seit sie beobachtet hatte, dass Hiltgardis nicht zu jenen Nonnen gehörte, die Berno bei jeder Gelegenheit wegscheuchten oder ihm einen Tritt verpassten. Während der Hund vor seiner Schüssel mit Wasser saß, probte drinnen das Flüchtlingskind mit dem Chor. Zuerst kam fast nichts aus ihrem Hals, und manche ältere Chormitglieder fragten sich, weshalb so eine wie die da denn überhaupt im Chor sei. Die könne ja weder reden noch singen. Schwester Hiltgardis aber gab nicht auf, sondern meinte gegenüber der Oberin, irgendetwas werde schon in dem Annla verborgen sein, tief drin, sie wisse nur noch nicht was und wie man es aus ihr heraus kitzle. Die gewöhnlichen Kirchenlieder interessierten das Mädchen aus dem Osten nicht, und sie bewegte nicht einmal die Lippen zum Tedeum. „Großer Gott wir loben dich“ sagte ihr nichts. Überdies wollte sie nicht etwas loben, was sie nicht kannte.

      Doch eines Tages, als sie wieder einmal mit Berno herumstreunte und nicht so recht wusste, wie sie den Tag totschlagen konnte, kam sie an der Kirche vorbei und hörte Schwester Hiltgardis auf der Orgel eine bestimmte Melodie spielen, die sie unwillkürlich und ganz gegen ihren Willen mitsummte. Einfach so mitsummte, obgleich sie diese Melodie überhaupt nicht kannte und weiß Gott nie zuvor gehört hatte. Es handelte sich um exakt 46 Takte für Chor, Streicher und Orgel, die auf den 17. Juni 1791 datiert waren und die der Kompositeur für das Fronleichnamsfest zu Baden bei Wien zu einem Zeitpunkt aufs Papier geworfen hatte, da sich sein Weib im neunten Ehejahr auf ihre sechste Niederkunft vorbereitete. Schwester Hiltgardis wusste das natürlich alles, aber Annla Kaps hatte davon nicht einmal den Schatten einer Ahnung. Was hätte ihr auch das Wissen genutzt, dass es sich bei der Melodie, die sie unwillkürlich mitsummen musste, um die Vertonung eines lateinischen Reimgebetes handelte, von dem die einen behaupteten, es stamme aus dem Genua des 13. Jahrhunderts, indes andere Papst Innozenz IV. als Urheber reklamierten. Annla war weder des Lateinischen mächtig noch konnte sie wissen, was eine Motette ist und dass diese Mozart aus der Feder geflossen war. Und zwar knapp ein halbes Jahr vor seinem Tod, während er zugleich an der „Zauberflöte“ und an seinem „Requiem“ arbeitete.

      Annla jedenfalls betrat, wie von einem Magneten unwiderstehlich angezogen, die Waisenhauskapelle und hörte, wie Schwester Hiltgardis nicht nur auf der Orgel spielte, sondern auch zu der Melodie sang – Worte in einer Sprache, die sie nicht verstand, die sie aber dennoch so magisch anzogen und auf geheimnisvolle Weise verzauberten wie die Melodie selbst: „Ave, ave, verum corpus natum de Maria virgine, vere passum immolatum in cruce pro homine, cujus latus perforatum unda fluxit et sanguine; esto nobis praegustatum in mortis examine, in mortis examine!“ Kaum hatte Schwester Hiltgardis ihr Spiel beendet, als Annla lautstark in Tränen ausbrach und sich schluchzend in eine Kirchenbank warf. Die Nonne verließ daraufhin sogleich die Empore, nahm sich der bitterlich und unaufhaltsam Weinenden an und begleitete sie, die vor Schluchzen kaum laufen konnte, ins Refektorium, indes der alte Bernhardiner mit hängendem Kopf neben den beiden her trottete. Das magere und immer hungrige Kind war nicht zu beruhigen, bis es sich in den Schlaf geweint hatte, und als es am anderen Morgen erwachte, sollte es noch einmal einen Tag und eine Nacht dauern, bis die Tränen endgültig versiegt waren.

      Von da an veränderte sich das Annla. Es hörte mit dem Streunen auf und fing an zu lernen. Nach und nach verbesserte sich ihr Deutsch und verlor den harten slawischen Akzent. Als sie von Schwester Hiltgardis eines Tages eine Blockflöte geschenkt bekam, war die Freude übergroß, und das gelehrige Mädchen fiel der Nonnen um den Hals: eine Geste, die noch vor einem halben Jahr völlig undenkbar gewesen wäre. Das erste Lied, das Annla nach wenigen Wochen fehlerfrei spielen lernte, wurde vom Gesang der Nonne begleitet: „Jesu bleibet meine Freude, meines Herzens Trost und Saft, Jesu wehret allem Leide, er ist meines Lebens Kraft …“ Und bald darauf folgte ein zweites Lied, das den Eifer der Schülerin noch steigerte: „Schafe können sicher weiden, wo ein guter Hirte wacht …“ Mehr und mehr behauptete sich Annla nun in der Schule und im Waisenhauschor, fand die vorsichtige, zunächst noch verhaltene, aber sich stetig festigende Anerkennung der anderen Kinder, bis sie schließlich so gut geworden war, dass sie von Schwester Hiltgardis zum ersten Sopran ernannt wurde, denn Annla konnte singen. Und wie. Sie traf nicht nur mühelos und sicher jeden Ton auch in den höchsten Lagen, sondern sie konnte ihn halten trotz ihres mageren Körpers, sie modellierte ihn, gestaltete die Kadenzen, und noch den Schatten eines Akkordes konnte sie zum Klingen bringen. Zwar weckte dies hier und dort offen erkennbaren Neid, doch Annla sonderte sich nun nicht mehr ab, sondern lachte und scherzte wie alle anderen Waisen, spielte mit ihnen, kicherte nach der Probe, machte gemeinsam mit ihnen ihre Hausaufgaben und gab die einstige Verschlossenheit auf, so dass ihr auch zuletzt die Eifersüchtigen ihren Erfolg gönnen mussten. Nur von Berno wollte sie nicht lassen, doch die anderen Kinder hatten sich längst daran gewöhnt, dass Annla ohne Berno nicht zu haben war. Im Laufe der Zeit schlug schließlich auch an, was das stets hungrige Mädchen mit der ihr eigenen Gier in sich hineingeschlungen hatte. Annla nahm an Gewicht zu und stakste nicht länger auf Fohlenbeinchen durch eine fremde Welt, sondern schoss noch einmal in die Höhe und entwickelte sich so, wie es einem Mädchen ihres Alters angemessen war. Ihr Haar war schon lange nicht mehr struppig und hing auch nicht mehr strähnig ins Gesicht, um den Blick zu verstellen, sondern es war stets gepflegt, glänzte vom vielen Kämmen und Bürsten und rahmte mit einer natürlichen Welle ein zunehmend hübscher werdendes Mädchengesicht. Annla wurde weder eine Streberin noch eine Musterschülerin, sondern hatte durchaus ihre schwachen Fächer, doch in Musik überragte sie ihre Mitschüler deutlich. Zur Blockflöte war schließlich eine Violine gekommen, und weil ihr das Spielen der Instrumente so leicht fiel, kam sogar noch der Unterricht an Klavier und Harmonium dazu. Zwar lernte sie das Lesen der Noten, doch in der Regel spielte sie nach Gehör. Das war ihre außergewöhnliche Begabung. Auf diese Art verliebte sie sich schließlich in ein Lied, das aus ihrer masurischen Heimat stammte und von fünf wilden Schwänen erzählte, Schwänen leuchtend weiß und schön, von denen eines Tages keiner mehr gesehen ward. Besagtes Lied erzählte ebenso von fünf jungen Birken, die grün und frisch am Bachesrand wuchsen, von denen aber keine jemals in Blüte stand, es erzählte von fünf jungen Burschen, die stolz und kühn zum Kampf hinaus zogen, und von denen aber keiner mehr nach Hause kam, und schließlich erzählte das traurig schöne Lied aus dem fernen Masuren von den Mädchen. Und das Annla musste immer weinen, wenn die Stelle kam, wo es heißt:

      „Wuchsen einst fünf junge Mädchen

      schlank und schön am Memelstrand.

      Sing, sing, was geschah?

      Keins den Brautkranz wand.“

      Alles schien seinen guten Weg zu nehmen, bis der alte Bernhardiner eines Tages krank wurde und eingeschläfert werden musste. Da war Annla schon in der Abschlussklasse, und es war zwischenzeitlich sogar mehrfach die Rede davon gewesen, ob man das begabte Kind nicht auf eine weiterführende Schule schicken sollte, wobei Schwester Hiltgardis in ihrem Überschwang sogar ein Musisches Gymnasium vorschlug. Doch Bernos Tod machte all den schönen Zukunftsplänen einen gewaltigen Strich durch die Rechnung. Ja, wenn das Mädchen einen anderen Hund bekommen hätte … Aber den wollte ihr niemand geben, trotz der vielen Köter, die durch die Gassen streunten.

      Von einem Tag auf den anderen wurde Annla wieder bockig, verstockt und stumm. Es war, als habe jemand einen Schalter umgelegt. Flöte und Violine lagen unbenutzt in der Ecke, Annla schwänzte den Unterricht und die Chorprobe und streifte diesmal nicht mehr durch die Felder, sondern trieb sich im Städtchen in der Bahnhofsgegend herum, wurde am Flussufer mit einer Flasche Bier in der Hand gesehen und interessierte sich nicht länger für Motetten und Kantaten, sondern für Jungs mit Mopeds und Motorrädern. Das abendliche Gebetläuten überhörte sie geflissentlich, und sie kam und ging, wann immer es ihr passte. Auf

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