Die Zeit auf alten Uhren. Gerhard Köpf
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Die Waisenhausnonnen wussten natürlich, was mit Annla geschah und was in ihr vorging, denn sie hatten derlei immer wieder erlebt. Nachdem das koketter werdende Mädchen die Schule abgeschlossen und sich, sehr zum Bedauern von Schwester Hiltgardis, gegen eine weiterführende Ausbildung entschlossen hatte, gab man sie in der Käserei in die Lehre. Das Ziel hieß jetzt Käsereigehilfin. Annla jedoch fühlte sich von Anfang an nicht wohl bei dieser ewig nassen Arbeit, sie hatte einfach keine Lust, die Bottiche zu reinigen, die schweren Laibe zu heben, mit der Milch herumzuplanschen und außerdem noch die Berufsschule zu besuchen. Ständig spürte sie einen Ekel in sich und mied bald alles, was nur im Entferntesten mit Milch zu tun hatte. Deshalb wollte sie so schnell wie möglich weg aus der Käserei.
Sie wollte zum „Gockelwirt“, der ihr angeboten hatte, jederzeit als Kellnerin bei ihm anfangen zu können. Es dauerte nicht lange, bis sie die Lehre abbrach und dem Lockruf der Gastronomie folgte. Zuerst begann sie als Spülerin, dann putzte sie Gemüse und Salat, half in der Küche aus, doch nach und nach arbeitete sie sich in die Gaststube vor und machte sich bald hier und dort unentbehrlich, denn plötzlich konnte Annla wieder zupacken und fleißig sein. Kein Abend dauerte ihr mehr zu lang. Beim „Gockelwirt“ gab es immer etwas zum Lachen, hier hörte man derbe Sprüche und Musik, und mehr als einmal wurden ihr vielsagende Blicke zugeworfen, hier war sie in Gesellschaft der Männer, hier fühlte sie sich wohl. Der Wirt war recht zufrieden mit seiner neuen Küchen- und Schankhilfe, an der sich mancher seiner Stammgäste gerne die Hand abgewischt hätte. Annlas Anblick steigerte den Umsatz, und das Mädchen verdiente sein erstes Geld, das weitaus mehr war als das magere Lehrlingsgehalt in der Käserei, von dem sie sich nicht einmal ein bisschen neueste Mode oder ab und zu ein Paar Schuhe mit höherem Absatz leisten konnte. Zwar wohnte sie nach wie vor im Waisenhaus, doch das änderte sich, als der Wirt der Oberin anbot, das Annla könne doch die Dachkammer beziehen, die er eigens habe frisch herrichten lassen. Die Oberin aber bestand darauf, dass bis zum achtzehnten Geburtstag gewartet werden musste. Als es endlich soweit war, packte Annla ihr Köfferchen, gab den Nonnen frech grinsend die Hand und meinte beim Verlassen des Waisenhauses wie nebenher zu Schwester Hiltgardis, Blockflöte und Violine habe sie auf dem Bett zurückgelassen, sie könne die Instrumente behalten oder einem anderen dummen Kind geben, denn sie brauche sie nicht mehr, sie sei auch nicht mehr fromm, und ab jetzt werde eine richtige Musik gespielt.
Das geschah ein paar Wochen vor Christi Himmelfahrt. Als der von den Männern des Blauen Landes alljährlich heiß ersehnte Vatertag endlich da war, stand Annla in aller Herrgottsfrühe auf, um dem Wirt bei den Vorbereitungen zur Hand zu gehen, denn alle Welt weiß, dass es an einem Tag wie diesem nur einen Gewinner geben würde, und das war, das ist und das bleibt wie immer der Gastwirt. An keinem anderen Tag im Jahr wurde so viel Bier ausgeschenkt wie am Vatertag. Das wusste auch Annla, und sie freute sich auf die derben Sprüche, die zweideutigen Scherze, das dreckige Gelächter und die übergriffigen Hände der jungen und der alten durchaus rechtschaffenen Männer, die sich darauf verstanden, Holz zu spalten, Rösser zu beschlagen, Mauern hochzuziehen, Sensen zu wetzen und die Liebe nur als etwas Grobes kannten, das sich auf wenige harte Gesten beschränkte. Denen würde sie schon zeigen, was sie konnte, was es mit ihr auf sich hatte und dass sie genau wusste, wie sie ihre Wäschetruhe füllen würde. Deshalb zog sie sich auch ein besonders hübsches Dirndl an, weil sie wusste, dass ein Blick in den Ausschnitt die Bauerntölpel noch durstiger macht, was ihr wiederum ein Tätscheln des Gockelwirtes eintragen wird. Das war seine Art, Zufriedenheit auszudrücken.
Und weil der Mai nicht kühl und nass gewesen war, wie es die Bauernregel eigentlich vorschreibt, sondern schon hochsommerlich warm, waren auch die mittlerweile gut gewachsenen Beine des Mädchens ein wenig von der Sonne gebräunt, so dass das Annla auf Strümpfe verzichten konnte. Das Mädchen aus dem Osten band sich die Kellnerinnenschürze um, unter der sie die Geldbörse verstaute, dann wartete sie auf die ersten Gäste, die noch während des Gottesdienstes, wenn der Pfarrer zum Predigen auf die Kanzel stieg, den Weg zum „Gockelwirt“ fanden. Schon gingen die ersten Krüge über den Tisch, und schon bekam Annla jene Temperatur, die sie besonders empfänglich machte für die dumpf verschlagenen Blicke der Mannsbilder mit ihren vierschrötigen, vom Bier und vom frühen Sommer erhitzten Schädeln. Über die Mittagszeit nahm das Geschäft zu, und Maß für Maß und Schweinebraten um Schweinebraten musste aus der Küche in die Gaststube auf die Wirtshaustische gebracht werden. Die Sonne stach vom Himmel, und auch die Honoratioren, die ihr stur standhielten und sich am Stammtisch um den Geistlichen Rat versammelt hatten, wischten sich mit ihren gestärkten weißen Taschentüchern den Schweiß von der Stirn und bestellten sich zur Feier des Tages sicherheitshalber noch eine Maß Bier, denn auf einem Bein kann man bekanntlich nicht stehen. Es wurde politisiert und geschachert, die nächsten Hochzeiten wurden eingefädelt und der Viehhandel ausgeschnapselt, ein Wort gab das andere, und das Annla kam mit dem Bedienen kaum nach, so durstig war die Gesellschaft. Trotz der vielen Arbeit entging ihr freilich nicht, dass sogar Hochwürden einen Blick in ihren Ausschnitt riskiert hatte, als sie sich besonders weit vorbeugen musste, um dem Geistlichen Herrn seinen Krug vor seinen Prälatenbauch zu schieben.
Das erfüllte sie mit Freude und Genugtuung, denn sie war ein kluges Mädchen, das verstanden hatte, worauf es im Leben ankam. Es kam nämlich nicht darauf an, dass man im Waisenhauschor als erster Sopran bei den Hochzeiten herzzerreißend das „Ave Maria“ singen konnte, sondern es kam auf jene Dinge an, die nicht einmal im Kino zu sehen waren, und die man eben wusste oder nicht. Auch Annla schwitzte, und der Schweiß ließ die Haut der Achtzehnjährigen glänzen, gab dem Gesicht ein paar feurige Wangen und trieb die Hitze ins Herz. Und während sich die Hitze in das Herz des Mädchens aus dem Osten senkte, rutschte sie in den Lederhosen der Mannsbilder beim Anblick der herausfordernd hübschen Kellnerin immer tiefer, besonders dann, wenn sie ihr weißes Schürzchen lüftete und die schwarze Geldtasche hervorholte, in welche sie mit ihren geschickten Händen Münzen und Scheine verschwinden ließ. Dann wären die Burschen gerne jene prall gefüllte Geldkatze auf dem Unterbauch von Annla gewesen, dann stellten sich die jungen Herren dabei nämlich vor, wie Annla nicht nur die Kellnerinnenschürze lüftete, sondern noch etwas ganz anderes. Und wenn sie nach der ersten Maß Bier hinaus auf den Abtritt mussten, wo sie ihre Hosenlätze aufknöpften und eines Sinnes einträchtig in Reih und Glied nebeneinander in der Latrine vor der Rinne standen, um ihr Wasser abzuschlagen, drehten sich ihre fachmännischen Gespräche ausschließlich um ein einziges Thema, das diesmal ausnahmsweise nichts mit der nächsten Fahnenweihe zu tun hatte.
Wie so vieles im Leben schien freilich auch dies nur eine Frage der Zeit zu sein, wann in diesem hitzigen Spiel die Eichel-Sau Trumpf sein und wer den ersten Stich tun würde. Es ist daher ziemlich überflüssig, an dieser Stelle einen Namen zu nennen und ihn besonders herauszuheben, denn vor dem Gesetz waren ohnehin alle gleich, und die Regeln waren allgemein bekannt. Sie lauteten: Ober sticht Unter. So einfach war das. Daneben gab es noch zweitrangige Regeln wie Glück in der Liebe und Pech im Spiel und wie solche Sprüche mehr lauteten. Das alles war freilich an einem Tag wie diesem völlig gleichgültig und nebensächlich, denn jeder im Blauen Land wusste, dass es diesmal um eine ganz besondere Meisterschaft ging, um den schon viel zu lange aus allen möglichen Blickwinkeln beobachteten, ausgiebig diskutierten und allseits begehrten Pokal, ums Ganze, und dass das Annla am Vatertag ohne Wenn und Aber in die Gesellschaft des Blauen Landes aufgenommen werden musste, auch wenn sie von irgendwoher aus dem Osten gekommen war. Von nun an sollte sie dazu gehören und ein für allemal ihren Platz einnehmen, einen Platz, der ihr gebührte, für den sie geboren worden war, dessentwegen sie vor dem Russen geflohen war, den ihr die Mannsbilder des Blauen Landes, die ja allesamt tapfer gegen diese Kalmücken gekämpft hatten, von heute an zubilligten, und den sie eigens für sie bestimmt und ausgesucht hatten. Lediglich die Frage war noch offen, wer den Pokal aufbocken, zum Schuss kommen, den Vogel abschießen, den Volltreffer landen würde, denn der Anwärter waren da