Still und starr ruht die Spree. Nora Lachmann

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Still und starr ruht die Spree - Nora Lachmann

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bei uns am Tisch brennend an dieser Frage interessiert ist aber wir sind zu feige und zu höflich, um solch eine im Grunde nahe liegende Frage einfach geradeheraus, ohne psychologisches Klimbim, ohne komplizierte Entschuldigungs-Manöver zu stellen.

      Plötzlich ruft Franz: »Ich bin oben bei euch!« Im nächsten Moment steht er auf unserem Tisch, ein Bein verfehlt nur knapp das Art-déco-Kännchen, dann greift er nach einer Metallstrebe, an der viele Glöckchen baumeln. Er hält sich daran fest und wir trauen unseren Augen nicht fängt an, wie Tarzan durch den Raum zu schwingen.

      Seltsamerweise schweigen meine Eltern. Sie brüllen nicht los, sie rufen Franz nicht zur Räson, sie finden auch keinen Dreh, um der Situation noch irgendwie etwas Kühnkreativ-Anarchisches abzugewinnen. Sie schweigen. Sie sitzen einfach nur da und schauen zu. Falk und ich sehen uns unsicher an. Mein Bruder ärgert andere gern auf diese oder jene Weise, aber wenn es wirklich hart auf hart kommt, ist er sehr menschlich. Plötzlich fangen meine Mutter und mein Vater simultan an zu weinen. Sie sitzen drei Meter auseinander an unserem riesigen Tisch und fangen im selben Moment an zu weinen. Franz ruft »Hollaaaa! Hallloo!«, und schwingt mit höchstzufriedenem Gesicht durch unser Berliner Zimmer. Hier und da knallt er mit einem Bein gegen eine Vase oder einen Bilderrahmen. Ich höre es schon von der Decke her knacken. Er könnte jeden Moment mit der Installation zu Boden stürzen. Falk steht jetzt auf und legt einen Arm um unseren Vater. Ich greife nach der Hand meiner Mutter. Mein Vater legt seinen Kopf auf den Tisch und schluchzt.

      Plötzlich, wie ich hier so sitze und das bedrohliche Knacken an der Decke höre, weiß ich, dass ein Lebensabschnitt meiner Eltern ein für alle Mal zu Ende gegangen ist.

      »Soll ich ihn da runterholen?«, fragt Falk unseren Vater.

      Aber der reagiert nicht.

      Im nächsten Moment gibt es einen unglaublichen Krach: Franz ist mitsamt der riesigen Installation und allen Glöckchen, Klingeln, Rasseln, Pfeifen und Schellen zu Boden gegangen. Meine Mutter löst sich endlich aus ihrer Paralyse und rennt zu Franz hin. Franz liegt unter der riesigen Installation, die mit ihren vielen, in alle Richtungen weisenden Streben jetzt etwas von einer verunglückten Spinne hat, begraben und scheint ohnmächtig zu sein. Meine Mutter schlägt ihn sanft auf die Wangen, zwickt ihn in die Oberarme. An der Decke klafft ein schreckliches Loch, Deckenfüllung, Dämmwolle fallen heraus, bröseln nach unten.

      Jetzt schlägt Franz die Augen auf. Er schaut meine Mutter stirnrunzelnd an. Dann schüttelt er den Kopf und murmelt: »Dideldum. Der Plumpsack geht um.« Er runzelt seine Stirn noch stärker und wiederholt knurrend: »Der-Plumpsack-geht-um!«

      Vor meinen inneren Augen sehe ich meine Eltern jetzt als altes Paar. Sie gehen zu meiner Überraschung richtig fröhlich durch einen Park. Meine Mutter in unspektakulären hellbraunen Oma-Halbschuhen, in einem langen taubengrauen Mantel, die Haare jedoch in ihrem üblichen Kupferrot nachgefärbt. Mein Vater trägt ebenfalls einen taubengrauen Mantel, eine anthrazitfarbene Anzughose, tatsächlich mit Bügelfalte, und zu meiner Überraschung ein kleines, elegantes schlohweißes Menjoubärtchen.

      Für eine Sekunde sehe ich Franz im Alter von vielleicht fünf in einem Kinderheim. Alle Kinder sollen ‚Die Reise nach Jerusalem‘ spielen, aber Franz hat keine Lust, den Spiel-Verordnungen von oben zu folgen, und erschreckt die anderen Kinder, indem er in einem immer enger werdenden Kreis um sie herumläuft und jedem von ihnen leise ins Ohr raunt: »Dideldum, dideldum, der Plumpsack geht um!«

      Franz rappelt sich jetzt auf, fasst sich kurz an die Stirn, auf der eine Platzwunde klafft, lehnt mit einer kleinen, aber doch erstaunlich autoritären Geste das angebotene Taschentuch meiner Mutter ab und schreitet entschlossen zur Tür. Als er die Hand auf die Klinke legt, dreht er sich noch einmal um, fasst Falk ins Auge, und sein Gesicht wird weich: »Herr Wegen kommt nicht über Sie hinweg«, sagt er und lächelt. Falk nickt galant.

      »Hirsch ist besser als Neukölln«, knurrt Franz Wegen, oder wie er auch immer heißt, als er die Tür öffnet, undnicht ohne noch einen schwankend ungelenken Knicks vor meiner Mutter zu machen ins Treppenhaus entschwindet.

      Meine Mutter hat sich offenbar wieder etwas gefasst. Aber mein Vater hat seinen Kopf in seinen Händen vergraben und wird von Weinkrämpfen geschüttelt. Weder Falk noch ich haben ihn je so gesehen. Falk streichelt ihm scheu über seine großen Schultern. Ich starre erschrocken auf den Topf mit dem Hirschragout, auf das Art-déco-Kännchen mit der Soße, sehe, wie der Soßenspiegel im Rhythmus der Wein-Anfälle meines Vaters mit zittert.

      Es ist das letzte Weihnachten gewesen, das wir mit einem Obdachlosen verbrachten, und auch das letzte Mal, dass unser Vater seine orange-rosa gestreifte Weste getragen hat.

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