Das Mädchen im Schloss. Ulrike Müller

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Das Mädchen im Schloss - Ulrike Müller

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der wurde so etwas wie ein Wahlspruch für Amélie, die den Sinn am Anfang nur unvollkommen verstand:

      Hör auf die Wellen, hör auf die Felder,

      Trau dem Licht und der Schatten weicht.

      Tritt in den Kreis der großen Natur.

      Lache und wieg‘ dich im Wind,

      Lache und wieg‘ dich im Wind.

      Schau auf die Menschen, schau ihre Welt,

      Sei eine Freundin dem guten Geist.

      Sei ein Gedanke, der himmelwärts reicht.

      Lache und wieg‘ dich im Wind,

      Lache und wieg‘ dich im Wind.

      Übrigens: Von ihrem heimlichen Ausflug hatte niemand im Schloss etwas mitbekommen, fast alle waren ja in Salzdahlum gewesen und spät zurückgekommen.

      Und so war dieser Tag, der schlecht begonnen hatte, ein richtiger Glückstag für sie geworden, fand Amélie, als sie abends im Bett lag. Und sie träumte von einer Nixe mit goldengrünen Haaren.

       Wie Amélie beinahe ein Segel in ihrer Suppe gefunden hätte und im Clavichord die Welt der Musik für sich entdeckt

      Amélie war heute nicht heimlich, sondern mit Erlaubnis der Hofmeisterin ganz allein im Schloss unterwegs. Das Mittagessen nahmen sie und ihre Geschwister gemeinsam ein. Mit Ausnahme des ältesten Bruders Ferdinand, der im so genannten Kleinen Schloss unweit des großen Schlosses mit seinem eigenen Hofstaat• und den Lehrern lebte, lernte und aß, wie es die Sitte für den Thronfolger erforderte. Alle übrigen Kinder der herzoglichen Familie hatten sich an jedem Wochentag um Punkt 12 Uhr im großen Speisesaal zum Mittagessen einzufinden. Und irgendwann war es beendet. Die Mutter, die Wert darauf legte, alle ihre Kinder einmal am Tag gemeinsam zu sehen, war heute ausnahmsweise nicht zugegen gewesen. Stattdessen hatte Madame Benzin als einzige Erwachsene mit den herzoglichen Kindern am Tisch gesessen, um diese zu beaufsichtigen.

      Der Gesichtsausdruck der Dame war von einer derartig kalten und unbeweglichen Strenge gewesen, dass Amélie, die ihr direkt gegenüber saß, am liebsten auf der Stelle davongelaufen wäre. Sie fürchtete sich nämlich vor harten Worten und davor, getadelt zu werden, was leider zu oft geschah. Doch dann wurde sie zum ersten Mal in ihrem Leben von diesem später noch so häufig empfundenen unbezwingbaren Drang ergriffen, erst recht standzuhalten und aufrecht an ihrem Platz zu verharren.

      Sie musste dieses Gesicht der Benzin immerfort ansehen – unauffällig, versteht sich, aus niedergeschlagenen Augen – und zwar so lange, bis sich irgendetwas, nur eine Kleinigkeit, darin ändern würde. Dann nämlich hörte die Angst auf. An deren Stelle aber hatte sich eine freche kleine Phantasie in ihren Kopf geschlichen, eine Art banger Erwartung – oder vielleicht war es auch eine heimliche Hoffnung. Was, wenn die lange dünne Nase der Hofdame in einer plötzlichen Regung von Ungehorsam auf einmal an dem silbernen Esslöffel festwachsen würde? Und zwar genau in einem jener Momente, in dem sie ihn, mit einer Portion Suppe gefüllt, in den Mund hinein beförderte? Amélie konnte es genau vor sich sehen: Madame Benzin würde den Löffel zunächst in der gewohnten würdevollen Langsamkeit mit der rechten Hand abwärts zum Teller führen, in die Suppe tauchen, dann frisch gefüllt bis an die Lippen heben und zur Abkühlung einen Augenblick ruhig halten. Aber dann! Auf dem Rückweg vom Mund zum Teller würde die Nase unverrückbar am Löffel kleben bleiben, sich also mitsamt diesem immer weiter vom Gesicht entfernen. Schließlich würde sie unten mit in der Suppe landen und wie ein kleines Segel daraus aufragen. Oder womöglich von den graugrünen Wogen der Suppe überspült werden wie bei Sturm der kleine Felsvorsprung an der Oker. Wie die gestrenge Dame wohl aussehen würde – so ohne Nase?

      Amélie hielt unwillkürlich im Essen inne. Nur mühsam unterdrückte sie ein Kichern. Um ein Haar hätte sie, die gebotene Contenance• vergessend, fast auch noch gegen das Redeverbot verstoßen, welches stets – bis auf das vor Beginn gesprochene Tischgebet – für die gesamte Zeit des Essens galt. Denn beinahe hätte sie ihren Lieblingsbruder Friedrich, der neben Madame am Tisch gegenüber saß, laut gebeten, das fantastische Geschehen schnell mit seinem Silberstift in das kleine, rote, in Wachstuch eingeschlagene Papierheft zu zeichnen, das er immer bei sich trug, um sich darin Sätze, Zahlen oder Kuriositäten• zu notieren. Doch ein Kontrollblitz aus Madames Augen hatte sie zurückgeholt und das ganze Unterfangen verhindert. Ihren zweiten Gedanken, dass schließlich ja auch ihre eigene, Amélies Nase, am Löffel kleben bleiben und am Ende im Tellergrund untergehen könnte, hatte sie infolgedessen nicht mehr zu Ende denken können. Sie hatte ja schließlich nicht zu träumen, sondern weiter zu essen, nach dieser schier unendlichen Portion Vorsuppe noch Hauptgericht und Dessert zu bewältigen, und zwar möglichst viel davon. Denn sie war dünn, zu dünn, geradezu dürr wie eine Bohnenstange, wie Caroline nicht ohne jenen verhassten triumphierenden Unterton in der Stimme bemerkte.

      Diese Suppe! Schon morgens gab es nichts außer Milchsuppe oder einer Getreidegrütze zu essen – schon allein das Wort Grütze war eine Zumutung! Aber das war so üblich, auch in einem Adelshaushalt, hatte die Oberhofmeisterin den Kindern mit freundlichem Bedauern erklärt, als Friedrich eines Morgens mutig fragte, ob er Hühnchen bekommen könne. Schließlich mussten die Kinder an vielen Wochentagen schon vor dem Frühstück eine Stunde Sprachunterricht bewältigen. Und Lernen macht auch die strebsamsten Kinder bekanntlich hungrig. Doch die Vorsuppe am Mittag schmeckte genauso grausig wie der Brei vom Morgen.

      Neulich, beim festlichen Diner• mit Gästen, da hatten in der Vorsuppe unter einer der ebenso seltenen wie verheißungsvollen Sahnehauben kleine rosafarbene Stückchen geschwommen. Und in der üblichen Unterweisung vor dem Mahl hatte die Hofmeisterin den Kindern erklärt, es handle sich um Krebsfleisch. Aber schwammen nicht Krebse sonst äußerst lebendig mit ihren großen Scheren im Meer herum? Jedenfalls hatten diese Krebse, das wusste Amélie todsicher, auf geheimnisvollen Wegen noch mit Scheren die Freitreppe des Wolfenbütteler Schlosses überwunden – schließlich hatte sie einen wahrscheinlich heruntergefallenen dort liegen sehen – und waren nun ohne in der Festsuppe gelandet. Hier taten sie keinen Mucks mehr und wurden von allen am Tisch gleichmütig verspeist. Und wie immer fand niemand außer ihr, Amélie, etwas Besonderes daran. Ob Amalunde, die Nixe, schon lebenden Krebsen begegnet war? Bestimmt! Im Fluss sollte es doch auch welche geben, aber nur ganz kleine. Die würde sie aber gewiss nicht essen, lieber würde sie mit ihnen plaudern. Denn wahrscheinlich konnten sie ebenso gut sprechen wie Amalunde. Amélies Herz klopfte. Die Nixe – ihre Nixe, ihre Amalunde. Amélie und Amalunde.

      „A-ma-lun-de!“, sie sprach es leise vor sich hin. Welch ein wundervoller Name! Das klang wie Musik: herrlichste grüngoldene Wassermusik. Überhaupt sollte sie jetzt besser an die Musik denken! Die Unterhaltung mit der Nixe vor drei Tagen würde ihr sowieso niemand glauben, am wenigsten die Mutter, die sich, wenn sie zwischen ihren zahllosen Audienzen• und Korrespondenzen•, Bällen und wohltätigen Besuchen einmal Zeit hatte, nicht gerade brennend dafür zu interessieren schien, was in ihrer Amélie vorging.

      Ja die Mutter! Eigentlich hatte Amélie zu ihr gar keine persönliche Beziehung. Ihrer Kammerfrau•, der Piperin zum Beispiel, fühlte sie sich viel näher. Ihre Mutter bewunderte sie eher aus der Ferne. Philippine Charlotte war hochmusikalisch, hatte eine wohltönende Stimme und spielte verschiedene Instrumente, unter anderem Flöte. Amélie hörte gern zu, wenn die Damen und Herren sich an den Montagabenden im großen Saal einfanden und gemeinsam musizierten. Und wenn sie dann in dem Zusammenklang der verschiedenen Instrumente den feinen festlichmetallischen

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