Das Mädchen im Schloss. Ulrike Müller
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Schwupps, schon saß sie wieder mitten in der Quelle, sie, Amalunde, die kleine Flussnixe, und wieder hatte Amélie ihr Kommen nicht bemerkt. „Hoheit haben heute wieder Ihr Festtagsgewand an?“, spottete sie quietschvergnügt. „Ach, Amalunde, Du weißt doch, wie schwierig es ist, hier unauffällig herzukommen, aber … ich musste unbedingt kommen, denn ich habe eine wichtige Frage an Dich, und vielleicht … “ Sie sah mit zweifelndem Blick aufs Wasser und zog unwillkürlich fröstelnd die Schultern hoch. „Vielleicht“, murmelte sie, „vielleicht gehe ich auch einmal ins Wasser.“ Und dann wieder lauter: „Aber sag mir: Weißt Du, was eine Taufe ist, und: bist Du getauft?“ Die kleine Nixe glitt behände auf einen bequemen Vorsprung des Felsens, wrang ein paar nasse Strähnen ihres langen goldengrünen Haares aus, warf es mit gekonntem Schwung in den Nacken und antwortete dann: „Natürlich weiß ich, was eine Taufe ist! Ich, meine Familie und alle unsere Vorfahren, wir sind schließlich alle getauft worden.“ „Aber ihr lebt doch sowieso immer im Wasser, da ist Wasser doch gar nichts Besonderes“, wandte Amélie ein. „Pah“, sagte Amalunde, und das klang einigermaßen hochmütig, „Das Wasser ist etwas Besonderes, weil wir schon immer darin leben, seit tausenden von Jahren.“ „Aber“, so schnell gab Amélie nicht klein bei, „wie könnt ihr denn ‚schon immer‘ dort leben und ‚schon immer‘ getauft sein, wo doch Christi Geburt noch nicht einmal zweitausend Jahre her ist?“ „Was hat denn unsere Taufe mit eurem Christus zu tun?“ Fragte Amalunde ernsthaft erstaunt. „Die Taufe ist so alt wie das Wasser selbst!“
Das musste Amélie erst einmal verstehen und verkraften. Was würde Kaplan Mittelstaedt wohl dazu sagen? „Also ihr seid nicht ‚in Christi Namen‘ getauft?“ „Nein, im Namen aller Wassergötter und -göttinnen der Welt. Und deshalb dauert unsere Taufe auch sehr, sehr lange und ist ein großes, großes Fest. Ein Meeresnöck• bringt ein Fischerboot voller Meereswasser aus der griechischen See mit, ein Wassertroll aus den nordischen Fjorden große Zapfen von süßem Eiswasser, eine schwarzhaarige Nereide• regenbogenschillerndes Wasser in farbigen Muscheln aus dem pazifischen Ozean, die schöne Lau• bringt einen Bottich sprudelnden Quellwassers herbei und einer von den verrückten amerikanischen Siebzehnzehenreitern• einen Rucksack mit Wasser von den Niagarafällen. Und am Schluss kommen dann noch die Gobeline• aus der Wüste mit einem Lederschlauch voller Regenwasser. Dass diese Reise besonders lange dauert, kannst Du Dir wohl denken. Na ja, und all diese verschiedenen Wassersorten werden dann feierlich über einem ausgeschüttet. Aber vorher werden auch die Lippen damit bespritzt und man muss mindestens drei Tropfen davon kosten.“ Amélie war starr vor Staunen: „Und Du bist auch mit all dem Wasser getauft worden und hast davon gekostet?“ „Ja, natürlich! Alle Wasserkinder, gleich, ob Nixen oder Nöcke, werden im Alter von 150 Jahren getauft. Bei mir ist das erst vor kurzem gewesen, vor 27 Jahren. Unsere Taufe ist das Zeichen dafür, dass wir in die große Weltwasserfamilie aufgenommen worden sind und fortan mit dazu gehören, dass wir, so sagt man ja wohl, mit allen Wassern gewaschen sind.“
Amélie überging die Tatsache, dass Amalunde also schon offenbar 177 Jahre alt war. Sie war sich nicht sicher, ob sie die nächste Frage lieber nicht stellen sollte, tat es dann aber doch: „Und können damit auch Deine Sünden abgewaschen und die Seele und das Gewissen gereinigt und erneuert werden?“ „Seele? Gewissen? Was ist denn das?“, erkundigte sich Amalunde mit dem leicht spöttischen Unterton, der ihr zu eigen war, „ist das eine Art Haut oder Farbe?“ „Nein, das sitzt eher im Innern“, versuchte Amélie zu erklären, „Alle Menschen haben eine Seele und ein Gewissen.“ „Naja“, meinte die kleine Nixe, „wir sind ja auch keine Menschen, sondern nur mit ihnen verwandt. Aber sag mir doch: Wozu sind Seele und Gewissen denn nütze?“ Wenn ich das so genau wüsste, dachte Amélie, eigentlich sind sie nur eine Plage, behielt den Gedanken aber für sich. „Ich kann damit“, sagte sie dann laut, aber etwas beklommen, „herausfinden, ob das, was ich tue, gut oder schlecht ist, und wie sich das anfühlt.“
Nun gab es im Gespräch erst einmal eine längere Pause. Amalunde, so schien es Amélie, bekam vorübergehend schlechte Laune. „Ihr Menschen mit euren Gefühlen“, brummelte sie. Dann aber überzog ein listiges Lächeln ihr Gesicht. „Übrigens, Prinzessin“, rief sie, „was ich beinahe vergessen hätte! Seit dem 17. Jahrhundert ist überhaupt erst bekannt, dass wir mit den Menschen verwandt sind. Und daher gibt es seit der Zeit auch einen Extra-Guss aus einem Eimer der Menschen: Dazu wird ein Dienstmädchen aus der Küche des nächstgelegenen Schlosses oder Guts zur Feier eingeladen.“ „Und was bringt es mit?“, fragte Amélie gespannt. „Putzwasser“, jauchzte Amalunde übermütig, „einen Eimer voll mit herrlichem Putzwasser, aber das muss richtig gebraucht und schmutzig sein, sonst wirkt es nicht!“
Amélie konnte das nicht glauben: „Ist denn aus unserem Schloss bei Euren Taufen auch ein Dienstmädchen dabei gewesen? Vor 27 Jahren?“ Da brach Amalunde in glucksendes, silberhelles Lachen aus: „Du glaubst wohl nicht im Ernst, dass wir an diesem popeligen Flüsschen Oker unsere große Weltwassertaufe abhalten? Das glaubst Du nicht wirklich! Nein, das war am Rhein, direkt neben dem berühmten Loreley-Felsen. Und es war ein Dienstmädchen von einem der Weingüter dort. Bereits dorthin zu schwimmen, hat mehrere Wochen gedauert. Ein unvergessliches Erlebnis: 723 Nöcken, 415 Nixen und 75 der ältesten auf Neptun zurückgehenden Wassergötter samt ihrem Harem• von Wassergöttinnen mit Algenhaaren und Muschelpanzern zu begegnen. Dazu die Musik aus den Muschelhörnern, unsere Unterwasserballetts, das Festessen am Rhein zur Mitternacht … kurz: Es war nixisch schön!“ Amélie musste zugeben, sie wäre auch gerne dabei gewesen, begriff aber gleichzeitig, dass Amalunde ihr in Gewissensfragen nun wirklich nicht helfen konnte.
Jetzt schlug es vom Schlossturm fünf Uhr, was bedeutete, dass sie wieder einmal zu spät zum Tee erscheinen würde. Dabei war noch kein einziges Wort über Musik gesprochen worden, weil das Gespräch eine so unerwartete Wendung genommen hatte. Nach einer feuchten Abschiedsumarmung sputete Amélie sich tüchtig, um rasch noch den Kittel bei Anna-Greta abzulegen.
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