Gewaltlosigkeit und Klassenkampf. Herbert Meißner
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Dem steht jedoch entgegen, dass die politischen und wirtschaftlichen Eliten ihre Positionen zu erhalten und weiter zu festigen bemüht sind. Ihr Widerstand gegen demokratische und soziale Forderungen nimmt immer brutalere Züge an.
Unter allen linken Kräften, Sozialforen, Netzwerken, Gewerkschaften usw. gibt es keinerlei Zweifel darüber, dass der Kapitalismus eine Klassengesellschaft ist. Mit welch unterschiedlichen Schattierungen oder zusätzlichen Beinamen er von den verschiedenen antikapitalistischen oder kapitalismuskritischen Gruppierungen auch ausgestattet wird – für alle handelt es sich um eine Gesellschaft mit Klassencharakter, um eine Klassengesellschaft, um Klassenherrschaft!
Damit ist aber auch klar, dass die von den Lohnabhängigen und anderen sozial benachteiligten Schichten geführten Kämpfe gegen Sozialabbau, gegen Leiharbeit und Lohndumping, gegen Hartz IV und Rente mit 67, gegen Kinder- und Altersarmut, für flächendeckenden Mindestlohn u.a.m. eindeutig Klassenkämpfe sind – auch wenn dieser Begriff nicht ständig lautstark benutzt wird. Ob nun der Begriff »Klassenkampf« in den verschiedenen Dokumenten, Programmen, Verlautbarungen und Aufrufen verwendet wird oder nicht – er findet statt. Da bei alledem aber der Standpunkt aufrecht erhalten wird, dass Gewaltfreiheit beizubehalten ist, entsteht für alle die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Gewaltfreiheit und Klassenkampf oder nach der Führung des Klassenkampfes bei absoluter und konsequenter Gewaltlosigkeit. Ist das realistisch? Kann das funktionieren? Wenn ja – wie? Wenn nein – weshalb nicht und was dann?
3. Klassenkampf und Gewaltlosigkeit?
Zur Beantwortung dieser Fragen finden wir Hilfe in der Geschichte – bei aller Spezifik unserer Gegenwart. Als allgemeingültig hat sich in der seriösen Geschichtswissenschaft die Erkenntnis von Marx und Engels durchgesetzt: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen«.[➚4] Und weiter wird im Kommunistischen Manifest konkretisiert: »Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete …« [➚5] Innerhalb der jeweiligen Gesellschaftsordnung finden in verschiedenen Perioden stärkere oder schwächere Klassenauseinandersetzungen statt. In Zeiten zugespitzter Konflikte zwischen oben und unten kommt es dann zu jenen stürmischen Kämpfen, die auf eine »revolutionäre Umgestaltung der ganzen Gesellschaft« abzielten. Davon zeugen die Aufstände von Spartacus gegen die Sklaverei wie die Bauernkriege gegen die Feudalherrschaft in Deutschland. Auch die Unabhängigkeitskriege in Amerika und die Überwindung der Sklaverei in den dortigen Südstaaten, was alles zur Entstehung der Vereinigten Staaten führte, vollzogen sich in revolutionären Kämpfen. In Europa wurde die Überwindung des Feudalismus und die Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft von der Französischen Revolution erfolgreich eingeleitet. Auch wenn nachfolgende revolutionäre Kämpfe ohne den jeweils angestrebten Erfolg blieben – sie alle belegen, dass die durch Klassenkämpfe vorangetriebene Entwicklung der Gesellschaft bis hin zu grundsätzlich neuer Gesellschaftsformation nicht ohne Kampf, nicht ohne Opfer, also nicht gewaltlos vor sich gegangen ist. Das gilt für 1848 und 1918 in Deutschland genauso wie für die Pariser Kommune und 1905 in Russland. Erst der russischen Oktoberrevolution gelang es wieder, eine alte Gesellschaftsordnung zu stürzen und den Aufbau einer qualitativ neuen Gesellschaftsformation zu beginnen. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass der Rote Oktober etwa im Vergleich zur Französischen Revolution oder zu anderen revolutionären Vorgängen die geringste Zahl an menschlichen Opfern mit sich brachte. Erst der nach der Machtergreifung der Sowjets von den Weißgardisten initiierte Bürgerkrieg und die ausländischen Interventionen führten zu größeren Verlusten. Dennoch vollzog sich auch die sozialistische Oktoberrevolution nicht gewaltfrei.
Hier soll natürlich nicht eine Revolutionsgeschichte nachgezeichnet werden. Es geht lediglich darum, sich in Erinnerung zu rufen und ganz konkret vor Augen zu halten, wie historisch gerechtfertigt die marxsche Erkenntnis von der Gewalt als Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht, ist.[➚6]
Diese marxsche Verallgemeinerung wurde auch von Friedrich Engels auf die vergleichsweise liberale französische Republik bezogen, als er schrieb: »Die französische Bourgeoisie … kann keinem Streik anders begegnen als mit Infanteriesalven und bringt es damit fertig, dass in einer Republik mit allgemeinem Stimmrecht den Arbeitern kaum ein anderes Siegesmittel bleibt als die gewaltsame Revolution«.[➚7]
Von Lenin wurde dies weiter aufgeschlüsselt, als er im März 1919 auf dem I. Kongress der Kommunistischen Internationale erklärte: »Die Geschichte lehrt, dass noch nie eine unterdrücke Klasse zur Herrschaft gelangt ist und auch nicht gelangen konnte, ohne eine Periode der Diktatur durchzumachen, d.h. der Eroberung der politischen Macht und der gewaltsamen Unterdrückung des verzweifeltsten, wildesten, vor keinem Verbrechen zurückschreckenden Widerstands, der immer von den Ausbeutern geleistet wurde.«
Man könnte noch viele Formulierungen von Marx, Engels und Lenin anführen, die diese Grundgedanken auf verschiedene Weise ausbauen, vertiefen und an bestimmten historischen Vorgängen verifizieren. Aber es geht hier nicht um eine Zitatensammlung, sondern um die beweiskräftige Vorstellung der Tatsache, dass in der Vergangenheit bis heute alle Klassenkämpfe mit der Anwendung von Gewalt verbunden waren. Dabei gab es revolutionäre Gewalt seitens der Unterdrückten im Kampf um ihre Befreiung sowie Herrschaftsgewalt seitens der unterdrückenden Klassen zur Sicherung und Aufrechterhaltung ihres Herrschaftssystems.
Da diese verschiedenen Arten von Gewaltanwendung gegensätzlichen Zielen dienen, sind sie auch nicht als gleichwertig einzuschätzen: Gewalt ist nicht gleich Gewalt. Der Unterschied besteht einmal in der historisch-politischen Einordnung unter dem Aspekt, ob dem gesellschaftlichen Fortschritt dienend oder ihn verhindernd, ob erreichten gesellschaftlichen Fortschritt sichernd oder das Rad der Geschichte zurückdrehend. Und ein zweiter Unterschied besteht in Art und Umfang der Gewaltausübung. Es ist nicht das Gleiche, wenn leibeigene Bauern mit dörflicher und städtischer Armut im Bunde die Herrensitze der Großgrundbesitzer und Feudalherren niederbrennen, sich den von ihnen bearbeiteten Boden aneignen und verteilen und die Abschaffung der Leibeigenschaft fordern, wobei auch Gutsherren und Adlige zu Tode kamen – oder ob die gut ausgerüsteten und ausgebildeten Heere des Schwäbischen Bundes die nur mit Sensen und Heugabeln bewaffneten Bauernhaufen Thomas Müntzers zu Tausenden buchstäblich abschlachteten.
Aber ungeachtet aller wichtigen Unterschiede bei Zielstellung, Ausmaß und Art von Gewaltanwendung bleibt unbestreitbar, dass in allen bisherigen Klassenkämpfen Gewaltlosigkeit keinen Platz hatte. Deshalb hat Marx auf dem Amsterdamer Kongress der Internationale betont: »Wir wissen, dass man die Institutionen, die Sitten und die Traditionen der verschiedenen Länder berücksichtigen muss, und wir leugnen nicht, dass es Länder gibt, wie Amerika, England, und wenn mir eure Institutionen besser bekannt wären, würde ich vielleicht noch Holland hinzufügen, wo die Arbeiter auf friedlichem Wege zu ihrem Ziel gelangen können. Wenn das wahr ist, müssen wir auch anerkennen, dass in den meisten Ländern des Kontinents der Hebel unserer Revolutionen die Gewalt sein muss; die Gewalt ist es, an die man eines Tages appellieren muss, um die Herrschaft der Arbeit zu errichten.« [➚8]
Wenn all das für die Vergangenheit gilt, entsteht die Frage, wie es in Gegenwart und Zukunft um die Möglichkeiten gewaltlosen, gewaltfreien gesellschaftlichen Fortschritts bestellt ist.
↑4MEW, Bd. 4, S. 462 – später