Leipzig - Die utopische Kommune 1989 – 2015. Группа авторов

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Leipzig - Die utopische Kommune 1989 – 2015 - Группа авторов страница 5

Leipzig - Die utopische Kommune 1989 – 2015 - Группа авторов

Скачать книгу

das Sofa und dachte an ihren lieben Friedrich. Dabei erholte sich ihr beklommenes Herz und sie fiel in einen tiefen erquickenden Schlaf, aus dem sie erst nach Stunden erwachte. In der Wohnung rumorte es, sie hörte Türen klappen, etwas wurde über den Flur geschleift und herausgetragen, die Toilettenspülung rauschte, in der Küche gab die Kaffeemaschine Geräusche von sich, als würde sich jemand übergeben, dann spielte viel zu laut Radiomusik. Als Frau Grau aus dem Zimmer trat, sagte die Stimme des Ansagers gerade: „An allen strategisch wichtigen Orten steht Militär bereit. Heute wird scharf geschossen. Die Bevölkerung wird aufgefordert, zu Hause zu bleiben.“

      „Ganz schön was los bei euch im Osten“, schrie die junge Frau und stellte das Radio leiser.

      Wieder tranken sie nur starken Kaffee. Frau Grau verspürte Heißhunger und dachte daran, die Reste ihres Reiseproviants heimlich zu essen.

      „Karl führt uns jetzt aus.“ Die Freundin schien hier den Ton anzugeben. Beide, der Sohn und sie, waren auffällig gekleidet, rochen stark nach Parfum, und Frau Grau fühlte sich überhaupt nicht wohl in ihrer Gesellschaft. Auch das große, tiefergelegte Auto missfiel ihr. Während der Fahrt hörten sie Radio und Frau Grau wäre jetzt viel lieber bei ihrem Friedrich zu Hause gewesen als bei ihrem Sohn, der ihr so fremd geworden war.

      Sie hielten vor einem Hotel an. Der Glanz der fremden Umgebung war überwältigend, das Essen ungewohnt delikat, die Getränke süffig und berauschend, selbst die Seife auf der Toilette, die dezente Musik, die sich mit den Wohlgerüchen verband, betörten sie und lähmten ihre Urteilskraft. Sie tranken, der Sohn schenkte wieder und wieder ein, sie prosteten sich zu: „Ja, das Leben im Kapitalismus ist schön, wenn man Geld hat“, rief er.

      „Frau Grau, du solltest Frau Rosa heißen.“ Die Freundin kicherte laut über ihren Witz, doch der Sohn sah seine Mutter besorgt an und griff nach ihrem Puls.

      „Du hast ihr doch nicht etwa von dem Zeug gegeben?“

      „Doch, ein bisschen, eine klitzekleine Prise“, antwortete seine Freundin und kicherte albern weiter. Das Kichern ging in girrendes Vogelgezwitscher über, die Mutter fühlte sich wunderbar leicht, sie wurde getragen, das Licht schien aus ihrem Inneren zu kommen, die Vogelstimmen umschwirrten sie. Sie war jetzt selber ein Vogel, nein, ein Fisch, tauchte in ein Meer aus Watte ein, schwebte wieder daraus empor und flog und flog …

      Am nächsten Morgen erwachte Frau Grau auf dem schwarzen Sofa und wusste einen Moment lang nicht, wo sie war. Ihr Körper schmerzte, der Kopf dröhnte, dann wurde ihr so übel, dass sie es gerade noch ins Bad schaffte, den Klodeckel zurückwarf und sich heftig erbrach. Hier ist niemand, stellte sie fassungslos fest. In der Tat war das Schlafzimmer, das sie noch nicht gesehen hatte, leer. Sie lief durch die kleine Wohnung und suchte nach einem Lebenszeichen. Das können sie doch nicht machen! Endlich entdeckte sie einen Briefumschlag, den ein Luftzug unter den Küchentisch geweht haben musste. Auf den Zettel in ihm hatte ihr Sohn eilig geschrieben: „Liebste Mama, verzeih uns. Ich wollte es dir sagen. Mach dir keine Sorgen. Sind im Urlaub. Anbei etwas Geld. Tschau, dein Karl.“ Es lag aber kein Geld dabei. Anbei dabei, anbei dabei, o wei, o wei, dudelte es in ihrem Kopf, der vor Schmerzen zerplatzen wollte. Sie kramte in ihrem Gepäck nach der Reiseapotheke, fand sie aber nicht. Schließlich suchte sie im Bad und in der Küche nach einer Hausapotheke, entdeckte in einem Fach massenhaft Schmerzmittel und bediente sich. Die Wirkung setzte rasch ein. Doch dann wurde ihr wieder übel, das ganze Elend begann noch einmal. Frau Grau legte sich im Schlafzimmer auf das Bett, deckte sich mit beiden Decken zu, klapperte mit den Zähnen, bibberte, wurde allmählich warm und schlief ein.

      Schließlich träumte sie von Friedrich, der in einem Gärtchen saß und Uhren reparierte. „Ihre Zeit ist noch nicht reif“, rief er. „Schau mal, wie hübsch sie ist!“ Er hielt ihr eine kleine bunte Armbanduhr entgegen. Sie sah um sich. Statt Blüten trugen die Blumenstängel in den Beeten kleine und große Uhren, die jetzt heftig zu ticken begannen, sodass Frau Grau erwachte. Sie stand sofort auf und brachte sich in Ordnung.

      Die Wohnung war kalt und ruhig. In dem fast leeren Kühlschrank fand sie ein paar Joghurts, sie kochte Tee, aß ihren Reiseproviant vom Vortag auf und stellte das kleine Radio in der Küche an. Wieder hörte sie die Stimme des Nachrichtensprechers aus dem Gedröhn der Musik.

      „Hier am Checkpoint Charlie ereignen sich unglaubliche Szenen. Fremde Menschen liegen sich in den Armen. Wir sind alle Brüder und Schwestern sowohl in Ost als auch in West. Wir sind ein Volk, eine Nation. An diesem denkwürdigen Tag, an diesem historischen Tag hat sich die alte DDR für immer verabschiedet und ich rufe Freiheit, Freiiiiheiiiit!“ Seine Stimme ging in Geheul unter und die wieder einsetzende Musik setzte das Geheul irgendwie fort.

      Frau Grau sagte zu sich: Ich muss nach Hause. Sofort! Sie rief die Nummer des Taxifahrers auf der Visitenkarte an, der fast im nächsten Moment klingelte. Bevor sie ging, zog sie rasch alle Stecker aus den Dosen, auch den der Kühltruhe, die mit einem Vorhängeschloss gesichert war. Sie ließ den Hut auf der hohen Ablage liegen, warf die Tür ins Schloss und eilte die vier Stockwerke hinunter.

       Ankunft in der neuen Zeit

      Der Taxifahrer umarmte sie. „Sie sind frei!“

      Frau Grau erwiderte: „Ich kann Sie nicht bezahlen.“

      Aber der Taxifahrer war nicht zu bremsen. „Ich fahre Sie, wohin Sie wollen!“ Doch fuhr er sie nur zum Bahnhof und wünschte ihr alles, alles Gute. Und Frau Grau fuhr in einem fast leeren Zug nach Hause, während in der Gegenrichtung voll besetzte Züge vorbeidonnerten. Aus den geöffneten Fenstern winkten Hunderte Arme mit Mützen, Schals, Taschentüchern und bloßen Händen in die kalte Nacht. Sie dachte nur: Jetzt habe ich meinen Sohn das zweite Mal verloren. Sie hätte gerne geweint, aber ihr Herz war wie verdorrt.

      Obwohl der Zug erst in einer reichlichen Stunde zurück in den Westen fahren sollte, wurde er von Hunderten Menschen erwartet, die alle einen Sitzplatz ergattern wollten. Als er hielt, erstürmten sie ihn. Frau Grau wurde zurückgestoßen, sie verlor beinahe die Knöpfe ihres Mantels und kämpfte wie eine Berserkerin um ihr Leben. Sie schlug einem Kerl, der blind gegen sie rannte, die Tasche ins Gesicht, kam frei, stürzte nach vorn, strauchelte, wurde zu Boden gerissen, aufgehoben, wieder in den Zug geschoben. „Ich will aussteigen! Lasst mich raus!“ Endlich stand sie auf dem Bahnsteig, zerzaust, derangiert, ihre Reisetasche lag ein paar Meter entfernt. Jemand hatte sie ihr aus dem Zug nachgeworfen. Ein Reporter fotografierte alles, während sich eine alte Frau in Schwesterntracht um sie bemühte und die ganze Zeit über bei ihr blieb. Der Reporter begleitete sie und ließ nicht von ihr ab, obwohl die Missionsschwester ihn anherrschte: „So lassen Sie doch endlich die Frau in Ruhe!“

      Frau Grau rief Herrn Friedrich an, er möge kommen und sie abholen. Sie zitterte wie im Fieber. Endlich kam er. Sie erzählte ihm unter Schluchzen die ganze Geschichte und bemerkte den Reporter nicht.

      Am nächsten Morgen stand unter der Überschrift „Frau Grau sieht rot“ eine Geschichte in der Zeitung, die der ihren entfernt ähnelte und sie sowohl auf den Fotos als auch im Text als eine entfesselte Furie darstellte, die aus Rache über die Republikflucht ihres Sohnes die Gelegenheit zur Einreise in den Westen genutzt hatte, seine Wohnung zu verwüsten.

       Spätes Glück und frühes Ende

      Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Der kleine Herr Friedrich hielt um Frau Graus Hand an, weil sie für ihn die beste aller Frauen war, klug, sanft und ein paar Jahre älter. Nach der Trauung schenkte er ihr eine hübsche Swatch-Armbanduhr und eine Hochzeitsreise in das Land, das diese Uhren herstellt. Die kleine bunte Uhr erinnerte Frau Grau an den merkwürdigen Traum in der Wohnung ihres Sohnes. „Die Zeit ist noch nicht reif“, murmelte sie versonnen.

      Jeder Tag brachte Veränderungen. Fast gleichzeitig

Скачать книгу