Namenlose Jahre. Marina Scheske
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Er geht hinaus auf den Hof. Noch ist es dunkel, nur ein fahler Streifen am östlichen Horizont lässt den neuen Tag erahnen. Es ist der Tag Null, der Tag, an dem er in die andere Welt fährt. Es nieselt leicht und am bewölkten Himmel zeigt sich kein einziger Stern. Gerhard schaut auf das Botschaftsgebäude, in der ersten Etage sieht er Licht hinter einem Fenster, das einzige Licht an diesem frühen Morgen.
Ein Mann kommt heraus und geht direkt auf ihn zu.
„Sie können wohl auch nicht schlafen.“
„Ich bin etwas aufgeregt, weil ich heute hier rauskomme. So ein bisschen neben der Spur, wissen Sie. Ich weiß nicht so recht, was da drüben auf mich zukommt.“
„Das kann ich gut verstehen.“
Sicher ist er ein Botschaftsmitarbeiter, denkt Gerhard. Er sieht so ordentlich aus. Der frisch rasierte Mann trägt einen gepflegten Anzug und ein hellblaues Oberhemd mit passender, dunkelblauer Krawatte.
„Meine Verlobte ist schon drüben“, sagt er leise.
Nun verspürt er den heftigen Drang, zu reden. So viele Gedanken und Gefühle bewegen ihn an diesem Morgen. Alles staute sich auf in den letzten Tagen. Es waren schweigsame Tage, er ging den Leuten aus dem Weg. Dieses Schweigen hatte er sich selbst auferlegt, um bloß nichts falsch zu machen.
„Was wissen Sie über die BRD?“
Der Mann schaut ihn an, sein Blick ist freundlich. Dennoch erscheint es ihm so, als würde von seiner Antwort abhängen, ob man ihn nun wirklich und wahrhaftig heute in den Westen reisen lässt.
„Ich war ja noch nie dort“, antwortet er hastig, „ich kenne dieses Land nur aus dem Fernsehen. Ich weiß, es ist eine Demokratie. Es gibt mehrere Parteien und der Bürger kann frei wählen, wer regieren soll. Es gibt Meinungs- und Pressefreiheit, Reisefreiheit und das Recht, zu demonstrieren und zu streiken. Und dann gibt es ein sogenanntes Grundgesetz und eine Verfassung. Die Inhalte sind mir aber noch nicht bekannt. Ich denke, dieses Land ist ein freies Land. Damit meine ich, jeder kann dort nach seiner Fasson leben ... Solange er den Anderen keinen Schaden zufügt. Ich meine damit, die Freiheit der Anderen darf man nicht beeinträchtigen. Das mit der Freiheit ist sicher nicht so einfach.“
„Da haben Sie recht. Sie sind ja gut informiert. Und wenn ich Sie so höre, glaube ich, Sie halten die Freiheit für ein begehrenswertes Gut.“
„Wenn man in einem Land lebt, in dem es keine Freiheit gibt, da muss man sich ganz schön abstrampeln, um sich ein paar kleine Freiheiten zu erkämpfen. Das kann auch nach hinten losgehen und auf einmal sitzt man hinter Gittern. Deshalb ist mir die Freiheit so wichtig.“
„Ich verstehe Sie sehr gut. Versprechen Sie mir etwas! Wenn sie drüben sind, erzählen sie den Leuten vom begehrenswerten Gut Freiheit. Sagen Sie ihnen, wie es sich angefühlt hat, hinter der Mauer zu leben. Leider weiß man oft den Wert der Freiheit nicht zu schätzen. Und so mancher nimmt sich seine persönliche Freiheit und missachtet dabei die Freiheit seines Nächsten.
Sie haben das gut gesagt, junger Mann. Ihr DDR-Bürger habt in einer Diktatur gelebt und es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder musste man sich bedingungslos anpassen oder man dachte und handelte selbstständig im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten. Das war eine gute Schule des Lebens. Ich weiß, wovon ich spreche, meine Eltern stammen aus Dresden. ... Was sind Sie von Beruf, wenn ich fragen darf?“
„Ich bin Schlosser. Speziell für Landmaschinen.“
„Sehen Sie, auch das meine ich. ... Sie sind ein Mann aus der Mitte des Volkes. Ganz unter uns, fragen sie mal einen Schlosser in der BRD, was ihm Freiheit bedeutet und was sie ihm wert ist, er wird nur müde mit den Achseln zucken. Was selbstverständlich ist, das schätzt man oft nicht mehr sonderlich. ... Aber Sie, bleiben sie so wach, wie sie sind! Herzlich willkommen in der Bundesrepublik Deutschland.“
„Vielen Dank! Ich habe da noch eine Frage, ich würde gern jemand anrufen, bevor es heute losgeht. Eine Familie in Dresden. Geht das?“
„Selbstverständlich, kommen Sie morgen früh in mein Büro. Zimmer 5, im ersten Stock.“
„Das ist doch dort, wo die ganze Nacht das Licht brennt, nicht wahr?“
„Ja. Da, wo gewissermaßen das ewige Lämpchen glüht! Versuchen Sie noch ein bisschen zu schlafen. Oder wollen sie lieber mit mir einen Kaffee trinken? Ich habe gerade frischen gemacht.“
„Wenn ich Sie nicht störe, gern. Schlafen kann ich jetzt nicht mehr.“
„Na, dann kommen Sie! Da können wir uns noch ein bisschen unterhalten. Ich schreibe nämlich gerade einen Artikel über den Wert der Freiheit im heutigen Deutschland.“
Hastig wählt er die Nummer, presst den Hörer an sein Ohr und während er dem Rufzeichen lauscht, schaut er hinauf zur Zimmerdecke. Ein großer Kronleuchter verleiht dem ansonsten nüchternen Büro etwas Nobles.
Und dann hört er Frau Seewaldts Stimme. Sehr weit entfernt scheint sie zu sein, es rauscht und knackt in der Leitung. Noch einmal verabschiedet er sich, bedankt sich für alles, was sie für ihn getan haben und er hört, wie sehr sie sich freut, dass er nun ausreisen kann. Versprechen muss er ihr, dass er sich meldet, wenn er drüben ist. Und er soll sich keine Sorgen machen, sagt sie, auch seine Mutter weiß nun Bescheid. Sicher würde ihn das wundern, doch sie hätte Kontakt zu ihr. Aber nun soll er zusehen, dass er nach Freiburg kommt, zu seiner Susanne. Und wenn er sich aus Freiburg meldet, wird sie ihm alles erklären.
Es klickt in der Leitung, Frau Seewaldt hat aufgelegt und Gerhard starrt auf den stummen Telefonhörer. Er kann sich nicht daran erinnern, Frau Seewaldt die Adresse seiner Mutter gegeben zu haben und auch von Susanne sprach er nicht. Woher kennen sie sich?
Langsam legt er den Hörer zurück. Verwandtschaft, dieses Wort ist plötzlich da, huscht durch sein Hirn und er erinnert sich an einen Tag seiner Kindheit. …
Jemand öffnet die Tür zum Büro. Er hört den Lärm im Hof und schaut auf die Uhr.
Drei Busse stehen draußen fahrbereit und nun klopft ihm sein Herz bis zum Hals und seine Gedanken überschlagen sich. Er weiß jetzt, wer die Seewaldts sind, er ist sich ganz sicher.
„Das ist der Wahnsinn“, murmelt er, „der blanke Wahnsinn.“
„Genau“, meint der Mann neben ihm, „ein einziger Wahnsinn ist das!“
„Stell dir vor, ich habe gerade meinen Onkel und meine Tante wiedergefunden. Wir hatten keinen Kontakt mehr, seit ich ein kleiner Junge war. Sie hatten sich mit meinem Vater zerstritten, der kann so ein richtiger Stoffel sein.“
„Sind die auch hier?“
„Nein, sie wohnen in Dresden.“
„Das versteh ich nicht.“
Gerhard lässt sich grinsend in den Sitz fallen.
„Musst du auch nicht. Das ist nämlich ganz schön kompliziert, ich kann es selbst noch nicht fassen.“
Die durchwachte Nacht fordert ihren Tribut. Er schläft ein und erwacht erst, als der