Namenlose Jahre. Marina Scheske

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Namenlose Jahre - Marina Scheske

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schaut aus dem Fenster und sieht einen hässlichen Betonbau, der ihn fatal an die Schwedter Plattenbauten erinnert. Jedoch die bunte Leuchtreklame über dem Eingang gibt ihm Aufschluss darüber, dass der Bus vor einer westdeutschen Raststätte hält. Es ist Mittagszeit und man rüstet sich zum Aussteigen. Wie er von seinem Nachbarn erfährt, ist eine kleine Pause angesagt, eine Toilettenpause, danach soll es Kaffee geben. Verpflegungsbeutel werden auch gleich ausgeteilt, aber die heißen ja hier Lunchpakete, meint er und vielleicht wäre es besser, wenn man Englisch lernen würde, ständig diese englischen Worte. ... Er redet ohne Punkt und Komma.

      Als das Gedränge an der Tür aufhört, verlässt auch er den Bus. Er beschließt, sich von nun an allein durchzuschlagen, vielleicht hat er Glück und kommt als Anhalter weiter. Auf keinen Fall wird er mit den anderen in ein Lager gehen. Er kann sie alle nicht mehr sehen, die Frau aus Sachsen, die ihm mit ihrem furchtbaren Dialekt auf die Nerven geht, den dicken Mann, der sich überall vordrängelt und auch nicht die ewig quengelnden Kinder.

      „Ich muss hier weg, sonst platze ich“, sagt er zu seinem redseligen Nachbarn, der nicht von seiner Seite weicht, während sie den Parkplatz überqueren.

      „Weg? Wie meinst du das?“ Verständnislos schaut er ihn an.

      „Hör zu. Ich fahr jetzt allein weiter, jemand wird mich schon mitnehmen, ich bin schon öfter getrampt.“

      „Aber wir müssen doch ins Aufnahmelager! Du kannst doch nicht einfach machen, was du willst!“

      Gerhard schaut ihn an und er sieht, was er in Schwedt jeden Tag sah. Da steht jemand vor ihm, der stets darauf wartet, dass andere ihm sagen, wo es langgeht.

      „Pass auf, wenn alle wieder im Bus sind, dann sagst du dem Obermacker da vorn, dass ich mich abgesetzt habe. Ich muss nicht in ein Lager, meine Verlobte wartet auf mich in Freiburg. Susanne Riedel, Hartkirchener Straße 8, das ist ihre Adresse. Wenn irgendetwas ist, dann können sie mich dort erreichen. Kannst du dir das merken?“

      Der Mann zieht ein Notizbuch aus der Tasche und schreibt sich die Adresse auf. Er tut es langsam und bedächtig. Gerhard schaut hinüber zum Bus, die Ersten haben bereits wieder ihre Plätze eingenommen. Hastig verabschiedet er sich.

      „Erdmann, Gerhard“, murmelt der junge Mann vorn im Bus, „ja, der fehlt. Alle anderen sind da.“ Wieder schaut er auf seine Liste. „Es tut mir leid, aber unter diesen Umständen können wir nicht weiter. Schließlich trage ich hier die Verantwortung.“

      „Aber Sie haben es doch eben gehört, er ist weg! Er will zu seiner Verlobten nach Freiburg. Ich denke, wir sind hier in einem freien Land. Oder sind wir etwa vom Regen in die Traufe gekommen?“

      Es fällt das Wort „Stasi-Methoden“. Der Mann mit der Liste versucht vergebens, die erhitzten Gemüter zu beschwichtigen. Erst nach einem schrillen Pfiff wird es still im Bus. Alle schauen auf den, der so ohrenbetäubend gepfiffen hat, es ist der Busfahrer. Der große kräftige Mann hat sich schwerfällig aus seinem Sitz erhoben.

      „Augen rechts“, brüllt er. „Da ist er.“

      Was sie draußen sehen, veranlasst den Mann mit der Liste, aus voller Brust zu seufzen.

      „Okay“, sagt er zum Busfahrer, „du kannst fahren. Soll er doch sehen, wie er klarkommt.“

      Gerhard ist soeben in einen grünen Kleinlaster eingestiegen. Eine schwungvolle Aufschrift verrät, dass es sich um das Auto eines Winzers handelt. Sie sehen, wie er seinen Arm winkend aus dem offenen Fenster hält und alle winken sie zurück. Es ist ein Moment, der den Frauen das Wasser in die Augen treibt und die Männer schlucken lässt. Da fährt einer von ihnen einfach so los in die Freiheit. Hier, in diesem fremden Land macht er sich allein auf den Weg in eine Zukunft, die er selbst gestalten wird.

      „Bist du von drüben?“

      „Merkt man das?“

      „Man hört es am Dialekt. Kommst du aus Berlin?“

      „Fast. Ich komme aus Schwedt an der Oder, das liegt hundert Kilometer nordöstlich von Berlin.“

      „Ich bin geborener Berliner, habe hier eingeheiratet. Und du willst also nach Freiburg, zu deiner Verlobten.“

      „Ja. Ich war in Prag, in der Botschaft. Bin gerade angekommen.“

      „Hier sind schon viele von euch. Wenn das so weitergeht, haben die da drüben bald keine Leute mehr. Die meisten sind über Ungarn gekommen, bei mir in der Kelterei arbeiten zwei, die sind aus Sachsen. Und du? Was bist du denn von Beruf?“

      „Ich bin Schlosser.“

      „Ach, da könnte ich dir was besorgen. Mein Schwager hat eine Werkstatt, gleich hier nebenan in Waidlingen. Er braucht dringend jemand, er schafft es nicht mehr allein. Wir kommen direkt da vorbei. Wenn du Lust hast, können wir gleich zu ihm. Von da aus kannst du den Bus nach Freiburg nehmen, das Ticket schenk ich dir.“

      „Danke. Ja gern, warum nicht. Klar brauche ich Arbeit, je eher, desto besser.“

      „Das ist die richtige Einstellung. Eines kann ich dir nämlich sagen, hier fliegen dir keine gebratenen Tauben ins Maul! Als ich damals hierherkam, das war gar nicht so einfach. „Saupreuß“ haben sie mich genannt, obwohl ich hier eingeheiratet habe. Aber denen habe ich es gezeigt. ... Biss musst du schon haben und vor allem ein dickes Fell.“

      „Haben sie hier einen Weinberg?“

      „Einen?“ Der korpulente Mann grinst. „Schau dich um, das ist alles meins!“

      Eine warme, goldene Herbstsonne leuchtet über dem Tal. Gerard schaut hinauf zu den Hängen, nie zuvor sah er Weinberge.

      „Da oben“, sagt der Mann, „siehst du das Schild da? „Waidlinger Jungferntröpfchen“, der hat im vergangenen Jahr die goldene Kammerpreismünze bekommen. Komm doch mal vorbei zur Weinprobe und deine Braut bringst du natürlich mit. Ich gebe dir nachher meine Visitenkarte.“

      Das Leben lässt sich hier ja ganz gut an, denkt er. Eine Einladung zur Weinprobe und mit der Arbeit klappt es bestimmt. Warum soll er nicht schaffen, was dieser Mann aus Berlin geschafft hat, er muss ja nicht gleich Weinbergsbesitzer werden.

      Er schließt die Augen und sieht sich mit Susanne dort oben zwischen den Rebstöcken, dunkle Trauben leuchten verheißungsvoll im grünen Laub und sie trägt ein weißes Hochzeitskleid.

      Lächelnd hebt sie ein Glas empor. Das Licht der Sonne glitzert im Wein, es funkelt und strahlt wie ihre Augen. ...

      Ein kreischendes Geräusch dringt in sein Ohr. Er spürt den mächtigen Druck, der ihn nach vorn schleudert und bevor der Schmerz kommt und ihm das Bewusstsein raubt, sieht er das Feuer vor sich und hört den Schrei des Fahrers. Es wird dunkel. Gerhard Erdmann befindet sich in einem brennenden Autowrack auf einer Wiese unweit von Freiburg.

      Neben ihm liegt der tote Weinbauer, der am Abend zuvor zu tief ins Glas geschaut hat.

      Karl-Heinz Erdmann beschließt, einen kleinen Spaziergang zu machen. Wie es im Winter seine Gewohnheit ist, will er die Schwäne unten am Fluss füttern.

      „Anneliese! Willst du nicht mit?“

      Er steht schon fertig angezogen im Flur, in der Hand hält er den Beutel mit dem alten Brot.

      „Wo

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