Emma Roth und die fremde Hand. Erika Urban
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Emma tauchte unter. Das Badewasser schlug über ihrem Kopf zusammen. Sie bewegte die Finger und spürte das Kind an ihrer Hand, das dort nicht hingehörte. Hörte ihre eigenen Schreie, als sie erkannte, dass die Schwester nicht mehr da war, und sah die erschrockenen Gesichter ihrer Eltern vor sich, als diese den Ernst der Lage erkannt hatten – diese Fratzen der reinen Angst.
In den Jahren danach hatten sie sich an eine vage Hoffnung geklammert: Vielleicht lebt sie noch, vielleicht wird sie sich eines Tages melden, vielleicht, vielleicht, vielleicht. Und dann, mit den Jahren ohne eine Nachricht, das Sterben der Hoffnung, die Resignation im leeren Blick ihrer Mutter. Und mit dem Eingestehen der Niederlage, dem Bewusstsein, dass der Kampf verloren war und ihr kleines Mädchen nie mehr wiederkommen würde, hatte das Sterben eingesetzt. Erst das körperliche der Mutter und dann das geistige des Vaters. Und sie selbst? Sie hatte ihr ganzes Leben umgeworfen und infrage gestellt, bis sie zur Polizei gegangen war. Sie war totunglücklich gewesen. Wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sie wegen Violas Schicksal niemals eigene Kinder bekommen hatte. Und jetzt war es zu spät dafür.
Entfernt hörte sie das Telefon leise verschwommen klingeln – nicht jetzt! Jetzt gab es nichts außer dem Rauschen um sie herum. Viola – Viola! Die letzten Jahre hatte sie immer weniger an ihre Schwester gedacht. Es gab Tage, an denen der Name ihre Gedanken nicht einmal mehr strich. Und jetzt war er wieder da – mit voller Wucht. Viola – Marie!
Mit einem lauten Prusten stob Emma aus dem Wasser empor und rieb sich die brennenden Augen. Sie wusste, was sie jetzt zu tun hatte. Sie nahm einen tiefen Schluck Amarone und stieg dann aus der Wanne. In ihren flauschigen Bademantel eingehüllt ging sie an ein Bücherregal und zog einen unscheinbaren Karton heraus. Er war verstaubt und seit Jahren nicht mehr geöffnet worden. Emma setzte sie sich an den Küchentisch, zündete eine Gitanes an und starrte eine Ewigkeit auf die Kiste. In ihr hatte sie alles über ihre kleine Schwester gesammelt: Zeitungsausschnitte, Zeugenaussagen, den Ausschnitt der Stadtkarte mit dem Fischmarkt, Fotos, die sie damals gemacht hatte – eine kleine Schatztruhe mit Erinnerungen.
Schmerzhaften Erinnerungen.
Entschlossen zog sie an ihrer Zigarette, dann öffnete sie sie und holte einen Schwung Notizzettel heraus – die Zeugenaussagen, die unmittelbar nach der Entführung aufgenommen worden waren. Ein Fischhändler meinte, einen Mann beobachtet zu haben, der vor der Entführung mit einem dunkelhäutigen Kind, ähnlich dem vom Fischmarkt, gesprochen hatte, eine Barfrau behauptete steif und fest, Viola kurz danach gesehen zu haben. Eine holländische Familie hatte eine verdächtige Gruppe Halbwüchsiger auf Mopeds erspäht – alles Spuren, die ins Leere liefen. Emma durchsuchte weiter den Karton. Sie fand eine Fotoreihe, Aufnahmen vom Fischmarkt, entnommen verschiedenen Touristenkameras nach der Entführung. Doch auch hier: keine Hinweise. Schließlich stieß sie auf Briefe, die andere Betroffene damals ihrer Mutter geschrieben hatten: eine französische Mutter, deren Kind in einem Kino entführt worden war. Eine belgische Familie, deren Sohn beim Stadtspaziergang durch Aix-en-Provence abhandengekommen war. Dokumente unbeschreiblicher Verzweiflung. Auf einem karierten Blatt hatte Emma damals eine Zeitleiste der Entführungen skizziert. Zwei Dutzend solcher Fälle hatte es in den Achtzigerjahren in Südfrankreich gegeben. Doch dann schien die Entführungsreihe plötzlich vorbei zu sein. Warum? Ein kranker Serienmörder, der es auf Kinder abgesehen hatte und auf einmal starb? Ein Krimineller, der die letzten zwanzig Jahre wegen irgendetwas anderem in Haft gesessen war und jetzt, wieder auf freiem Fuß, munter weiter Kinder verschleppte? Fragen über Fragen! Auf die sie heute keine Antwort mehr finden würde. Sie nahm die angebrochene Flasche und die Gitanes mit in ihr Schlafzimmer und trank sich in einen unruhigen Schlaf.
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