Am Zauberfluss. Ulrich Meyer-Doerpinghaus

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Am Zauberfluss - Ulrich Meyer-Doerpinghaus

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der Gegend von Lüttich ansässig gewesen war. Der Vater war von dort nach Köln gezogen, um die Leitung des Handelshauses zu übernehmen, das ihm sein kinderloser Onkel vererbt hatte. Der tüchtige Boisserée hatte dann eine Kölner Kaufmannstochter geheiratet und mit ihr eine zwölfköpfige Familie gegründet, die »am Blaubach« wohnte, mitten in den verwinkelten Gassen der Stadt und nur einen Steinwurf von Neumarkt und Heumarkt entfernt. Der zwanzigjährige Sulpiz, im Verhältnis zu seinem jüngeren Bruder Melchior der zweifellos Aufgewecktere und Temperamentvollere, absolvierte eine Kaufmannslehre in Hamburg. Die Entwicklung des weltläufigen jungen Mannes nährte die Erwartung, dass er, wie von seiner Familie erhofft, in die Fußstapfen des Vaters treten und eine Karriere als Kaufmann einschlagen werde. Das wäre auch so gekommen, wenn er nicht durch Zufall bei einem Kölner Buchbinder »einem jungen Manne mit krausem Haar und lebhaften Augen« begegnet wäre, eben dem um sieben Jahre älteren Johann Baptist Bertram. Sulpiz Boisserée erinnert sich: »Das Gespräch führte gleich auf die Brüder Schlegel, besonders auf Friedrich; die unbedingte Begeisterung, welche der junge Mann für diese beiden genialen, aber etwas gar zu stürmisch auftretenden Männer aussprach, wollte mir nicht einleuchten.«17 Von den Vorbehalten des Sulpiz Boisserée aber ließ sich Bertram nicht entmutigen. In den kommenden Tagen und Wochen suchte er Sulpiz immer wieder auf und schrieb ihm mehrere Briefe, um ihn für Schlegels Ideen und Schriften zu begeistern. So gelang es Bertram, Sulpiz Boisserée mit dem Virus der Schlegel-Begeisterung zu infizieren. Jener beschloss, nun von den schönen Wissenschaften fasziniert, von der Kaufmannslaufbahn zu lassen, um statt dessen ein Studium zu beginnen. Er fasste den Plan, sich im Herbst 1803 an der Universität Jena zu immatrikulieren, wo die idealistische Philosophie durch Lehrer wie Friedrich Schelling oder Georg Wilhelm Friedrich Hegel in Blüte stand. Um die verbleibende Wartezeit zu überbrücken, schlug Bertram seinem neuen Freund einen Plan vor: Warum sollte man nicht nach Paris reisen, bei Schlegel anklopfen und für eine Weile bei ihm in die Lehre gehen? Sulpiz stimmte zu und überzeugte auch seinen jüngeren Bruder Melchior, sich den Reisenden anzuschließen.

      In der Rue de Clichy angekommen, zögerten die drei nicht, Schlegel eine Bitte vorzutragen: Sie hätten den Wunsch, einige Wochen in seiner Pension zu wohnen und für das Gold, das sie ihm gäben, nicht nur Kost und Logis, sondern auch Privatvorlesungen zu erhalten. Diesen Wunsch erfüllte ihnen der Hausherr gern. Im »Cabinet«, dem Arbeitszimmer, erging er sich, zwischen Bücherstapeln und Haufen von Manuskripten stehend, vor seinen Zuhörern in gelehrten Ausführungen über Literatur, Kunstgeschichte und Philosophie. Der Parisaufenthalt der Kölner sollte sich wegen eines Hautleidens von Sulpiz indes verlängern, und so kamen sie ein halbes Jahr lang in jenen Genuss. Auch Helmina durfte mitlauschen. Sie äußerte sich hernach begeistert: »Unsere Stunden waren sehr belebt, der Geist durchwehte sie wie eine angenehme Zugluft.«18 Sulpiz war nicht weniger angetan: Schlegels »Urteile … fesselten uns, trotz der Paradoxien, worin er sich dann und wann verstieg«.19

      Was bewegte die Kölner Gäste, ihre Pläne für Ausbildung und Beruf über Monate hintanzustellen, um sich von den Ideen eines Philosophen bereichern zu lassen? War es allein dessen schillernde Intellektualität, die den Ausschlag gegeben hatte? Gewiss, Bertram und die Boisserée gaben einem ausgeprägten Streben nach Bildung nach, das für die höheren Familien Kölns durchaus charakteristisch war. Doch spielte noch ein weiteres Motiv eine Rolle, und das waren die Zustände, in denen sich die Heimatstadt der drei Parisbesucher in jener Zeit befand. Seitdem die Franzosen die linksrheinischen Gebiete im Jahr 1794 besetzt hatten, war es mit Köln bergab gegangen. Die neuen Herren beraubten die Stadt nicht nur ihrer wirtschaftlichen Substanz, sondern sie hatten es auch auf den Lebensnerv abgesehen, der der Stadt seit jeher Stolz und Selbstbewusstsein gegeben hatte. Das waren die anscheinend zahllosen Kirchen, Klöster und Stifte und der unermessliche Reichtum, der in jenen Einrichtungen aufbewahrt wurde: mittelalterliche Tafelbilder, kostbares Schnitzwerk, liturgische Geräte aus wertvollen Materialien. Seit Beginn der Besetzung schafften die Franzosen das Kölner Kirchengut in großen Mengen nach Paris, wo im Jahr 1793 der Louvre zu dem Zweck eröffnet worden war, das Gut, das dem König und dem Adel Frankreichs sowie den eroberten Ländern geraubt worden war, aufzubewahren und öffentlich auszustellen. Die Situation sollte sich für Köln im Jahr 1802 weiter verschärfen. Im Juni dieses Jahres wurde im Rheinland das sogenannte Supressionsgesetz erlassen, ein Vorläufer des »Reichsdeputationshauptschlusses«, der ein Jahr darauf die Säkularisation für ganz Deutschland verbindlich machen sollte. Zwischen August und Oktober 1802 wurden in Köln fast alle geistlichen Institutionen aufgelöst. Man riss Kirchen und Klöster ab oder führte sie einem neuen, weltlichen Zweck zu. Priester und Ordensleute mussten binnen zehn Tagen die geistliche Kleidung ablegen und sich eine neue Bleibe suchen. Der gesamte Kirchenbesitz wurde kurzerhand zu französischem Nationalgut erklärt. Ein Teil davon übergab man einer Reihe deutscher Fürsten östlich des Rheins, die Napoleon sich als künftige Bündnispartner gegen Preußen und Österreich gewogen machen wollte. Der andere Teil ging vom Staat zurück in private Hände: Kunstgegenstände wurden von Sammlern angeboten und auf den Jahrmärkten verhökert.

      Diese Geschehnisse warfen für die Zeitgenossen eine Frage auf: Welchen Wert hatte eigentlich die Kunst des Mittelalters? Der aufgeklärte Zeitgeist sprach ein klares Urteil: Die Kunst der Antike und der Renaissance war wertvoll, die des »finsteren« Mittelalters dagegen nicht. Bevor sich der Markt diesem Geschmacksurteil anpassen sollte, ergriffen die vornehmen Familien Kölns die Initiative. Sie wollten das kulturelle Erbe der Stadt retten, indem sie der Kunst des Mittelalters einen neuen, höheren Wert verliehen. Das war, so wurde es in den höheren Kreisen der Stadt einhellig begriffen, zur entscheidenden Existenzfrage Kölns geworden.

      Hier dürfte wohl der entscheidende Grund zu suchen sein, warum Bertram und die Boisserée nach Paris reisten. Schlegel war für sie der ideale Mann, um die Kölner Ambitionen zu unterstützen. In der Zeitschrift »Europa«, die er seit dem Frühjahr 1803 herausgab, unternahm er den Versuch, die mittelalterliche Kunst neu zu entdecken und sie zu diesem Zwecke genauestens zu beschreiben. Das Musée Napoléon, wie der Louvre inzwischen hieß, bot ihm dafür einen breiten Fundus an. Weil der neue Blick, den Schlegel auf die mittelalterliche Kunst warf, die Kölner Gäste zu ihm gelockt hat, erscheint an dieser Stelle ein Exkurs über die sogenannten Gemäldebeschreibungen des Philosophen lohnenswert.

      Schlegel macht bei seinem Rundgang durch das Musée Napoléon gleich zu Anfang eine Entdeckung, die ihn erschüttert. In einer weit entlegenen, schwach beleuchteten Kammer stößt er auf Gemälde, die nach seiner Meinung eine bessere Behandlung verdient hätten: »Hier liegen übereinandergelehnt an der Wand die göttlichen Meisterwerke Perugins und des leiblichen Johann Bellin, ungesehen, und unbewundert!« Dagegen findet Schlegel in den öffentlichen Ausstellungsräumen des Museums Werke jüngeren Datums, die ihm viel weniger gefallen. Die alten Werke zu entdecken, das sieht er als seine Aufgabe. Denn: »Ich habe durchaus nur Sinn für die alte Malerei, nur diese verstehe ich und begreife ich, und nur über diese kann ich reden.« Was aber ist für ihn »alte Malerei«? Es sind solche Gemälde, die während des Spätmittelalters und der frühen Renaissance (also bis etwa 1550) in Deutschland, in den Niederlanden und Italien geschaffen wurden. Jan von Eyck, Albrecht Dürer, Hans Holbein der Jüngere, Leonardo und Raffael, so heißen seine Helden. Maler, die erst in der Hoch-, der Spätrenaissance und im Barock lebten, markieren dagegen für ihn eine Art neutralen Zwischenzustand, nicht schön genug, um sie zu schätzen, aber auch nicht schlecht genug, um sie rundheraus abzulehnen. So urteilt Schlegel, »daß die kalte Grazie des Guido [Reni] nicht viel Anziehendes für mich hat, und daß mich das Rosen- und Milch-glänzende Fleisch des Dominichino mit nichten bezaubert«. Was jedoch noch später gemalt wurde, trifft vollends der Bannstrahl seiner vernichtenden Kritik: »Ich habe über diese Maler kein Urteil, wenn man nicht etwa das für eines wollte gelten lassen, daß damals schon die Malerei nicht mehr vorhanden war.« Schlegel steht wie frierend vor diesen Gemälden, da »der Künstler, wo er nun für den Gegenstand nicht mehr fühlte, doch den Zwang der Aufgabe und der gegebenen Bedingung desto drückender empfand, und sein Produkt dadurch nicht selten in Affektation oder Spielerei geriet, oder doch kalt blieb«. Was aber haben die alten den neuen Meistern voraus? Schlegel: »Keine verworrene Haufen von Menschen, sondern wenige und einzelne Figuren, aber mit dem Fleiß vollendet, der dem Gefühl von der Würde und Heiligkeit der höchsten aller Hieroglyphen, des menschlichen Leibes, natürlich

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