Von Friedland in Ostpreußen an den Jakobsweg. Ingrid Stahn

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Von Friedland in Ostpreußen an den Jakobsweg - Ingrid Stahn

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wäre und nicht mehr aus der Stadt fliehen konnte. Als die Mutter mit den Kindern im Treck einer Massenbewegung von Flüchtenden die Alle-Brücke verlassen hatten, drehte sie sich noch einmal um. Sie standen auf einer Straße, die bergauf ging und alleeartig von großen Bäumen umrahmt war. Sie schauten hinunter in das Tal auf die Brücke und die Mutter sagte: „Gleich gibt es sie nicht mehr und wir werden nie mehr zurückkommen können.” Dieses Bild, die Straße mit den Allee-Bäumen, die Brücke, der Blick auf die Häuser von Friedland und die Worte der Mutter hatten sich bei Andrea so eingeprägt, dass sie 50 Jahre später mit ihrem Bruder eine Reise in die Vergangenheit machte und genau diese Stelle aufsuchte, um dieses Bild aus der Erinnerung wieder zu finden.

      Sie fanden es und konnten beide jede Minute von damals nachvollziehen.

      Reise in die Vergangenheit

      Zu diesem Zeitpunkt, fast 50 Jahre später war Max ein Reiseleiter. Er hatte sich nach der Wiedervereinigung Deutschlands als Existenzmöglichkeit ein kleines Reiseunternehmen aufgebaut und organisierte Reisen in die ehemaligen deutschen Gebiete, die nach dem Krieg für viele Menschen nicht mehr ihre Heimat sein durfte, jedenfalls für die Menschen, die dort einmal geflüchtet oder vertrieben worden sind, deren Heimat es bis zum Kriegsende war. Erst die politische Veränderung zwischen Ost und West ließ eine gewisse Reisefreiheit für bestimmte Gebiete zu, dazu gehörte Ostpreußen, Max und Andreas Heimat bis zu ihrer Flucht Ende 1944. Max sprach mehrere Sprachen und beherrschte geschickt alle landestypischen Bürokratien, die für eine Einreise in diese Gebiete oder Länder bewältigt werden mussten. Es gab viele Menschen in Deutschland, die in ihrem Herzen die Trauer über den Verlust und die Vertreibung aus ihrer Heimat durch die Kriegsfolgen nicht bewältigt hatten, die Sehnsucht und Hoffnung nie aufgaben. Sie nutzten nun die Möglichkeit, um noch einmal in ihrem Leben ihre Heimat zu sehen und ihre Erinnerungen aus der Zeit ihres Lebens vor dem Krieg zurück zu rufen. Nostalgiereisen nannten manche Menschen, die mit solchen Erinnerungen nicht belastet waren, diese Reisen. Wie wichtig aber diese Reisen für die Betroffenen zur Bewältigung ihres Lebenstraumas waren, konnten diese Spötter aus Mangel an Betroffenheit nicht nachempfinden. Für diese Reise hatten Max und Andrea keine weiteren Reisende mitgenommen. Es war ihre ganz persönliche Reise in die Erinnerung ihrer Kinderjahre. Sie wollten alleine sein mit ihrer Erinnerung, ihrer Betroffenheit, mit ihrer Sehnsucht und ihrer Trauer.

      Max benutzte für diese Reise sein eigenes Auto. An den Grenzübergängen von Polen nach Russland war er durch seine häufigen Touren und mit seinen großzügigen Geschenken schon bekannt. Er hatte den Kofferraum seines Autos voller Geschenke gepackt. Er wusste, wie man eine dreitägige Wartezeit an der Grenze verkürzen konnte. Unerfahrene Reisende konnten bis zu drei Tage auf ihre Abfertigung an der Grenze warten, wenn sie Pech hatten, erst dann war die Einreise in das russische Land möglich. Max und Andrea wurden aus der Kolonne gewunken, Ausweise und Visa kontrolliert, bei der Überprüfung zollpflichtiger Mitbringsel wurden Geschenke ausgetauscht und die Schranken öffneten sich wenig später für eine ungehinderte Weiterfahrt. Max hatte schon oft die Möglichkeit genutzt, das Land seiner Vorfahren und seiner Geburt wieder zu sehen. So suchten sie alle Orte auf, in denen Tanten und Verwandte der Familie bis zur Flucht wohnten … Er kannte sich zwischen Berlin und Königsberg sehr gut aus, hatte sich fast jeden ehemals deutschen Ort angesehen, zu denen er noch einen Vergangenheitsbezug hatte. So brauchte er nichts zu suchen oder orientierungslos zusammenzufügen. Er konnte zielgenau Andrea überall hinführen. Er zeigte ihr auch ihren Geburtsort. Die Orte Ihrer Kindheit waren nun überwiegend russisches Land. Ihr Königsberg hieß nun Kaliningrad, ihr Friedland hieß nun Prawdjimsk.

      Ein paar Kilometer weiter war Ostpreußen Polen zugeschlagen worden. Während die Russen allen Orten neue Namen gaben, es sollte nichts mehr an die deutsche Vergangenheit erinnern, hatte Polen die Ortsnamen belassen und nur polnisch umgeschrieben. So konnte man in Polen mit etwas Sprachverständnis die alten deutschen Ortsnamen ableiten.

      Sie fuhren als erstes nach Friedland, dorthin, wo ihre letzten Kindheitstage in eine unwiederbringliche Vergangenheit gesteckt wurde.

      Es schmerzte sie ungemein. Die Brücke über die Alle war wieder aufgebaut, aber längst nicht so schön, wie sie damals war. Sie sprachen darüber, was sie von damals noch in Erinnerung hatten. und suchten die Fragmente ihrer Vergangenheit. Max erinnerte sich an seine Schule, die er noch ein Jahr in Friedland besuchen konnte.

      Sie stand unverändert und hatte auch noch ihren deutschen Namen auf einer eingemauerten Steinplatte am Vordereingang. „Agnes-Miegel-Schule”, benannt nach einer großen ostpreußischen Heimatdichterin. Die Kirche stand auch noch unverändert an ihrem Platz. Die Häuserreihe, in der Andrea und Max bis zur Flucht wohnten, muss im Kriegsgeschehen total zerstört worden sein. Max erinnerte sich noch sehr gut an Details. Sie war ähnlich wieder aufgebaut, nur etwas russisch. Der Bahnhof dieser kleinen Stadt befand sich noch am gleichen Standort, konnte jedoch auf Anhieb nicht als Bahnhof erkannt werden. Nur die Gleise und Weichen ließen hier einen Haltepunkt für Züge erkennen. Bretterverschläge, die Hütten oder Gebäude sein sollten, dienten als Bahnhofsgebäude. Es sah aus wie eine verlassene Unterkunft von Holzfällern oder Flößern. Der Bahnhof war noch in Betrieb.

      Dann suchten sie die Stelle an der Alle, wo sie als Kinder mit der Mutter immer an den heißen Sommertagen baden gingen. Auch das konnten sie wieder finden. Max zeigte Andrea die Stelle am Ufer der Alle wo die Mutter die Decke ausgebreitet hatte, zum Ausruhen und Erwärmen in der Sonne. Er zeigte Andrea die Stelle von der Wehrmauer der Alle, wo er seinen ersten Kopfsprung in das Wasser riskierte. Das große Wehr mit dem Kraftwerk dazu stand noch wie vor 50 Jahren. Jetzt tummelten sich russische Kinder fröhlich und unbefangen genauso wie damals Max mit seinen Freunden, während die Mutter mit der kleineren Schwester badete, oder auf der Decke lag. Ihre Kindheit spiegelte sich wieder. Trauer, Verlustschmerz, Gefühle, die man schwer formulieren kann, ergriffen diese nun schon altgewordenen Geschwister.

      Sechs Kilometer vor Friedland suchten Max und Andrea das Gut Großwohnsdorf, auf dem ihre Großeltern gelebt hatten, hier wurde er geboren. Hier hatte Max noch sehr ergreifende Erinnerungen. Er wurde bis zu seinem 6. Lebensjahr von Großmutter Anna dort versorgt und behütet. Max liefen die Tränen über das Gesicht, als er die Gutsarbeiterhäuser suchte. Er wollte Andrea das Haus von Oma und Opa zeigen, fand es aber nicht. „Hier sieh mal her, hier bin ich mit Opa immer in den Wald gegangen und hier muss das Gebäude gestanden haben, wo die Pferde darin waren.” Das Herrenhaus vom Gut stand noch, jedoch sehr beschädigt und verrottet. Eine Frau kam auf sie zu. Sie war Russin und sprach kein Deutsch. Max sprach dafür perfekt Russisch, so erlitt das Gespräch keine Verständigungsprobleme. Max erklärte ihr den Grund für seinen und Andreas Besuch in der Gegend. Sie war sehr freundlich und zugetan, als sie die Geschichte dieses Besuches erfuhr. Sie erzähle ihre Geschichte, die nicht weniger ergreifend war. als die von Max und Andrea. Sie berichtete, dass sie im Winter 1947 mit vielen anderen Personen aus der Ukraine auf Lastwagen verladen wurden. Sie wurden bei eisiger Kälte durch ganz Russland bis nach Friedland gekarrt. Dort wurde der Laster durch Schrägstellung der Ladefläche entladen. Wer nicht rechtzeitig gesprungen war, wurde abgeschüttet wie Kies oder Sand, danach fuhr der Laster weg. Die Menschen blieben schutzlos in der Kälte ohne Nahrung und Wasser zurück. Sie suchten in den zerbombten Trümmern dieses Gutes, konnten aber nicht einen einzigen Raum finden, der ihnen Schutz geboten hätte. Sie gruben sich Erdhöhlen aus und verbrachten den Winter in diesen Höhlen. Einmal in der Woche sei ein Laster vorbeigekommen, er schmiss zwei Säcke Korn von der Ladefläche in den Wegrand und fuhr kommentarlos weiter. Nach dem Winter hätten die Überlebenden Männer und Frauen dann aus den Resten der zertrümmerten Gebäude Buden zusammengebaut, in die sie einziehen konnten. Im Laufe der Jahre hätten sie diese Buden immer besser ausgebaut, sodass sie nun hier wohnen konnten. Die Russin war sehr ergriffen, sie weinte während der Schilderung ihrer Geschichte. Wenn sie den Mund aufmachte, sah man nur schwarze Stümpfe, die wohl irgendwann als Zähne gewachsen waren. Nur ihre Lebensgeschichte konnte ihr abstoßendes Äußeres versöhnen. Sie war Andrea und Max sehr zugetan, denn sie vereinte ihre tragische Vertreibung aus ihrer Heimat. Alle hatten bitter gelitten, die Sieger und der Besiegte.

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